Rio Reiser - Das alles und noch viel mehr
Lietzau ihn noch nie zuvor gehört hatte. »Was bei jedem anderen nur naiv geklungen hätte«, so Hartmut El Kurdi in seiner kleinen Abhandlung über Schwarzrote Pop-Perlen und The Essence of Rock , bekommt bei Rio »einen dunklen, melancholischen Unterton, der fast ins Resignative kippt. Dann aber dreht sich die Stimmung plötzlich, und aus der drohenden Verzweiflung erwächst Hoffnung und eine verbissene Bereitschaft zum In-die-Hände-Spucken und Ärmel-Aufkrempeln. Letztlich handelt es sich hierbei um eine diesseitige Erlösungsphantasie.«
Zu Mein Name ist Mensch waren sie von den Stones selbst und ihrem Song Sympathy For The Devil inspiriert worden; den Text hatten sie, so Wolfgang Seidel in dem von ihm herausgegebenen Scherben -Buch, nur bruchstückhaft (und falsch) verstanden, und ihre Finger seien damals »einfach nicht flink genug« gewesen, »um ein Klavier-Riff adäquat zum Originaltempo der Stones einzuspielen«.
Als sie am Ende feststellten, dass sie zu viele Songs für ein Album und zu wenige für eine Doppel-LP aufgenommen hatten, spielten sie in Klaus Freudigmanns Berliner Studio schnell noch den BVG-Song Mensch Meier und den Rauch-Haus-Song ein.
Dem Doppelalbum, das im Herbst 1972 schließlich unter dem Titel Keine Macht für Niemand veröffentlicht wurde, lagen ein »Katschi«, ein Spielzeug-Katapult, und ein Textheft bei, das später zahlreichen Punk-Platten als Vorbild dienen sollte und in dem es hieß: »Wir haben aufgehört, für irgendeinen Chef zu arbeiten, und wir leben zusammen. Wir sind in keiner Partei. Unser Programm heißt: Tu, was du tun willst. Wir sind fast das halbe Jahr auf Tournee (und einmal im Monat auf’ner Reise). Wir glauben, dass es keine bessere Möglichkeit gibt, mit vielen Leuten etwas zusammen zu machen, als nach einem Rockkonzert (z. B. ein Haus ›besichtigen‹ oder besetzen. Ist jemand hier, der kein Jugendzentrum möchte?). Wenn du ein Konzert mit uns organisieren willst, dann schreib uns. Wir wollen meistens achthundert Mark, aber wenn ihr gut plakatiert und viele Leute kommen, kann man den Eintritt frei machen und sammeln.«
Das klang nach einer Menge Spaß, am 30. November war jedoch erst einmal Schluss mit lustig. Obwohl es bereits Mittag war, saß die Scherben-Kommune noch beim Frühstück, als ein dreißig Mann starkes, mit Bleiwesten und Maschinenpistolen ausgerüstetes Kommando der Bereitschaftspolizei das T-Ufer stürmte, alle verhaftete und 6000 »Katschis« einsammelte, weil Rios Freund Andy mit einer solchen Zwille das Wohnzimmerfenster von Frau Lincke im Haus gegenüber zerstört hatte. Ebenfalls beschlagnahmt wurden Einbruchswerkzeuge (= Schlotterers Werkzeugkasten) und vermeintliches Diebesgut (= eine Stereoanlage).
Doch das war erst der Auftakt. Der Staatsapparat demonstrierte in den folgenden Jahren immer wieder seine Macht und durchsuchte die schmuddelige Kommune ein ums andere Mal, so dass Rio sich schließlich angewöhnte, mit dem Personalausweis unterm Kopfkissen zu schlafen.
12 Die Schlacht am Igelberg
Seit dem vergangenen Jahr spielte Rio live vorzugsweise auf einem Hohner-Clavinett, das einen »ganz eigenartigen neuen Sound« ergab, wie vor ihm schon Stevie Wonder herausgefunden hatte. Dieses elektrische Klavier ist so groß wie ein Keyboard und mit Saiten bespannt, die aber nicht wie beim Klavier geschlagen, sondern gezupft werden. Für einen Pianisten wie Rio war das ideal, war doch die Musik allgemein immer lauter geworden, so dass es kaum noch möglich war, auf der Bühne Klavier zu spielen, wenn man nicht die Mikros ganz weit aufziehen und so Rückkopplungen en masse erzeugen wollte.
Im Januar 1973 traten sie unter anderem im UJZ Kornstraße auf, einer ehemaligen Fabrik, die infolge eines früheren Scherben-Konzertes im Audimax der TU Hannover besetzt und zum Jugendzentrum umfunktioniert worden war. Der Raum im oberen Stock, in dem später zahlreiche Punkbands auftraten, von Hans-à-Plast und Klischee bis zu Chelsea und den Angelic Upstarts, war gerammelt voll, und Ton Steine Scherben heizten den Zuschauern ein, als gäbe es kein Morgen mehr. Von der Decke tropfte schon bald das Schwitzwasser, die Luft war schier zum Zerschneiden, und wer bis dahin noch kein Fan von ihnen war, kaufte sich spätestens nach dem unglaublich intensiven und energievollen Auftritt ihr neues Album im Internationalismus Buchladen ein Stockwerk tiefer.
Knapp drei Monate später spielten sie erneut in Hannover, diesmal im UJZ Glocksee, doch abgesehen
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