Rio Reiser - Das alles und noch viel mehr
Klappe halten. Mir wäre eine Vereinigung fünf Jahre später lieb gewesen, als dieser Anschluss mit der Dampfwalze – damit die Ostler ihre Probleme lösen und ein eigenes Selbstbewusstsein entwickeln können.«
Im sächsischen Riesa lauerten ihm Nazi-Skins auf und beschimpften ihn als »schwule Sau« – um sodann den Rauch-Haus-Song anzustimmen. (Später coverte die Neonazi-Band Die Landser den Scherben-Song Allein machen sie dich ein , der laut Wolfgang Seidel schon bald »zum festen Bestand des rechten Liederbuchs« gehörte und gern auf NPD-Veranstaltungen gespielt werde.)
Dem Fitnesskult hatte er schon immer skeptisch gegenübergestanden. Man sei nicht auf der Welt, um gesund zu sein, hatte er wiederholt gescherzt. Folgerichtig bereitete er sich nicht groß auf die Tour vor und schenkte seiner angeschlagenen Gesundheit keinerlei Bedeutung. Notorisch klamm, war es ihm einzig und allein wichtig, dass er 5000 Mark Gage am Abend und seine Musiker jeweils 500 erhielten.
Als Rio feststellte, dass auf seinem Konto noch kein Geld eingegangen war, ging er in Geisleden mitten im Song Übers Meer von der Bühne ab, ließ sich dann aber überreden, die Tour fortzuführen, obwohl sich mit jedem Tag mehr abzeichnete, dass nicht mehr viel übrig bleiben würde.
Sein letztes Konzert absolvierte er am 24. Mai 1996 im Plauener Malzhaus. Am nächsten Tag sollte er in Berlin-Weißensee die Open-Air-Saison eröffnen, doch dazu kam es nicht mehr. Im Buschkrug-Hotel gab es einen medizinischen Notfall. Als der von Jan Bajen herbeigerufene Kerschowski sah, wie Rio sich krümmte und dass er das Bettlaken blutig gekotzt hatte, wusste er, jetzt ist Feierabend.
Der Tourneeveranstalter Wolfgang Schubert musste die Tour wohl oder übel abbrechen, weil »Rio Reiser den Tourstress nicht verkraftet« habe und »zusammengebrochen« sei, wie er der Presse mitteilte. Am Telefon gestand er Kerschowski, dass er ja froh sein könne, Rio die vereinbarte Gage vertraglich nicht »garantiert«, sondern nur »kalkuliert« zu haben.
Zurück in Fresenhagen, legte Rio sich erst mal eine Woche lang ins Bett und litt darunter, dass sich das Problem nicht von selbst löste. Obwohl Schubert sich weigerte, ihm die ausstehenden Gagen zu überweisen, überlegte er sogar, erneut mit ihm auf Tour zu gehen – bis Kerschowski ihm von dem Telefongespräch erzählte. Da war es erst mal eine Minute lang still in der Leitung, und er musste fragen: »Rio, bist du noch da?« Wie ein alter Mann habe er plötzlich geklungen, »er war so verletzt und fertig«.
Um sich von dem Schock zu erholen, fuhr er mit Jan Bajen nach Italien, wo er in den vergangenen Jahren des Öfteren im Ferienhaus seines Bruders seine Batterien wieder aufgeladen hatte. Bajen erhielt die »klare Ansage«, keinen Alkohol zu kaufen, auch dann nicht, wenn er ihn anschnauze.
Von Dolcedo aus war es nur ein Katzensprung nach Cannes, wo er sich während der Musikmesse Midem mit dem ehemaligen Scherben-Saxophonisten Nikel Pallat traf. Pallat war angenehm überrascht, dass Rio sein nächstes Album wieder auf dem David-Volksmund-Label veröffentlichen wollte, das von Indigo vertrieben wurde, einem Indie-Vertrieb, der aus dem einst von den Scherben mitgegründeten Schneeball-Vertrieb hervorgegangen war. »Er dachte immer noch«, erinnert sich Pallat, »er könne 40 000 Einheiten verkaufen, was ich tendenziell für Wunschdenken hielt. 40 000 war damals so eine Zahl, die jeder Major-Künstler nannte, dessen Vertrag ausgelaufen war.«
Pallat wollte ihn neu positionieren und die Produktion entschlacken, um ihn wieder auf ein neues Niveau zu bringen, und war der Meinung, dass »eine Schippe Dreck« seinem Sound gut tun würde. Der letzte Auftritt, den er »noch erleben durfte«, im »Schmidt’s Tivoli«-Theater auf der Hamburger Reeperbahn, hatte für ihn »seinen ganz besonderen Reiz« gehabt, weil Rio den Song Sklavenhändler , der schon sehr lange nicht mehr gespielt worden war, mit der Haltung eines soften Rebellen gesungen habe, die ihm gut zu Gesicht stand.
Rio war für ihn indes kein Selbstgänger mehr, und er war besorgt, dass es zu »massiven Budgetüberschreitungen« kommen könnte, wenn Rio und Udo Arndt sich wieder im Studio verschanzten. Auch sein Vertrauen in Lanrue, der offiziell Geschäftsführer der David Volksmund Produktion war, und Rios Sekretärin Tina Aldag hielt sich in Grenzen, war doch schon die Promotion für das erst kürzlich erschienene Scherben-Album live II seiner Meinung nach
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