Rio Reiser - Das alles und noch viel mehr
Nummer-1-Hit gelandet – geschenkt! Aber muss man deshalb gleich die Sony anprangern, weil sie Senderreisen nicht so »durchgezogen« habe, wie das bei Bap oder Udo Lindenberg der Fall gewesen sei? Wem nützt es, wenn Rio zum Opfer von Musikredakteuren stilisiert wird, von denen er angeblich ignoriert wurde, weil sie sich früher nie getraut hatten, die Scherben zu spielen, und sich später keine Blöße geben wollten? Und sollte man nicht lieber mit Äußerungen vorsichtig sein wie der, dass man Verleger werden sollte, wenn man, wie George Glueck, »Geld im Schlaf verdienen will«?
»Wir haben ziemlich gut gelernt, was Kunst ist, welche Verantwortung man als Künstler gegenüber dem Publikum trägt«, sagt Peter Möbius von sich und seinen Brüdern, »aber auch was Michelangelo für Maßstäbe gesetzt hat, oder Beethoven.« Sie, die Möbiusse, hätten aber keinen Lehrer gehabt, der ihnen beibrachte, »wie man sich selbst dauernd präsentiert, aufspielt, welche Beziehungen man nutzen muss«, so wie das Grönemeyer mache, was er »wirklich bewundernswert« finde. Bei dem sei es doch auch gegangen, ihn »ohne Niveauverlust« zu vermarkten. Und es sei doch »eine Schande«, dass nicht Rio und seine Lieder, sondern lediglich Coverversionen davon im Radio gespielt würden.
36 Die letzte Schlacht gewinnen wir
Die Anzeige, die am 31. August 1996 in der taz erschien und ein Konzert im Berliner Tempodrom ankündigte, war nicht besonders groß und leicht zu übersehen. »Wir wollen, dass alle kommen, die Rio geliebt, verehrt, bewundert, gehasst, gekränkt, verlassen und wiedergefunden haben«, hieß es darin. »Wir wollen, dass Rios Geist und sein Schaffen, das aus uns allen kam, weiterlebt und weitergetragen wird. FEIER, Feuer und Flamme für RIO.«
Auch vor dem Tempodrom wurde nicht groß Werbung gemacht. Lediglich ein handgeschriebenes Plakat wies auf die Veranstaltung hin: »Sonntag 1. Sept./20 h – Abschied von Rio – Eintritt frei«. Trotzdem strömten an diesem Tag Fans und Freunde aus ganz Deutschland dorthin, um sich von ihm zu verabschieden.
Es waren keineswegs nur APO-Opas, die sich in dem total überfüllten Zelt oder davor drängten. Und sie weinten auch nicht nur den alten Zeiten nach, in denen Rio Reiser und Ton Steine Scherben voller Überzeugung gesungen hatten: »Aus dem Weg, Kapitalisten, die letzte Schlacht gewinnen wir.«
Corny Littmann, der als enger Freund von Rio das Konzert der Freunde moderierte, verkündete gleich zu Beginn, dass es an diesem Abend »keine Regeln« gäbe, und las aus Rios Autobiografie vor allem jene Stellen vor, in denen er sich über seine Meskalin-Trips und seine Homosexualität ausließ. Herbert Grönemeyer und Niels Frevert, der Knabenchor Omnibus und die Komikerin Marlene Jaschke, die Schlagersängerin Marianne Rosenberg und die Rock-Lady Ulla Meinecke, der Rauch-HausBesetzer John Banse und die Linkssentimentalen Transportarbeiterfreunde, sie alle interpretierten Rios Lieder. Ossi-Bands wie Keimzeit und Engerling, der bayerische Multiinstrumentalist Jürgen Buchner (Haindling), der Chansonnier Tim Fischer und die Einstürzenden Neubauten verneigten sich vor ihm, indem sie eigene Songs darboten. Und zum ersten Mal seit elf Jahren traten Ton Steine Scherben wieder auf, unplugged, wobei Alexander Hacke von den Neubauten an Rios Stelle Jenseits von Eden sang. Anschließend tobten die zahlreich erschienenen Fans, als wäre ihnen Rio soeben leibhaftig erschienen.
Einen Monat später wurde auf Initiative der Brüder in Berlin der Verein Rio Reiser Haus gegründet, der dazu ermuntern sollte, das Leben in Rios Sinne »mit schöpferischer Neugier zu erforschen, es zu erkämpfen und zu genießen«. Denn, so hatte es zumindest in der Einladung an seine Freunde und Mitstreiter gestanden: »Rio lebt, weil wir noch nicht gestorben sind.«
Als Zweck des Vereins wurde der Erhalt und die Nutzung des nunmehr Rio Reiser Haus genannten Hofes in Fresenhagen angegeben, der »ein Ort der Begegnung und des Austausches« werden sollte, von der Tageszeitung Junge Welt aber als Versuch gebrandmarkt wurde, »eine an den Lady-Di-Verwurstungskitsch gemahnende alternative Rio-Reiser-Gedächtnisindustrie zu etablieren«.
Bei einem weiteren Treffen wurde unter anderem beschlossen, die von Rio hinterlassenen Aufnahmen zu archivieren. Gert Möbius berichtete, dass George Glueck und Annette Humpe ihm zugesagt hätten, künftige Einnahmen aus Rio-Produktionen dem Verein zu spenden. (Glueck kann sich an
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