Ripley Under Ground
nervös. An diesem Vormittag konnten er und Chris nichts unternehmen. Mittags hatte der Sturm noch zugenommen, und die Gipfel der hohen Pappeln bogen sich wie Peitschen. Ab und zu brach ein Zweig ab – vermutlich klein und dürr – und wurde von einem nahen Baum zum Haus hinübergeweht; dann knackte es raschelnd, wenn er das Dach traf und herunterrollte.
»So was habe ich hier wirklich noch nie erlebt«, sagte Tom beim Mittagessen. Chris war gelassen wie Dickie – vielleicht auch wie die ganze Familie –, er lächelte nur und genoß den Aufruhr.
Dann versagte der elektrische Strom, eine halbe Stunde lang gab es kein Licht, was bei jedem Sturm hier auf dem Lande passierte, sagte Tom, selbst wenn er nicht so stark war.
Nach dem Essen ging Tom hinauf in das Zimmer, wo er malte. Manchmal half ihm das Malen, wenn er nervös war. Er stand dabei vor seinem Arbeitstisch, die Staffelei war angelehnt an einen schweren Schraubstock und mehrere dicke Bücher über Kunst und Gartenpflege. Der Boden der Staffelei stand auf alten Zeitungen und einem großen Farblappen, der von einem alten Bettlaken abgerissen war. Tom beugte sich eifrig über sein Werk und trat immer wieder einen Schritt zurück, um es prüfend zu betrachten. Es war ein Porträt von Mme. Annette, das er etwa im Stil von de Kooning malte: Mme. Annette würde es also niemals als den Versuch einer Ähnlichkeit akzeptieren. Tom war nicht mit der Absicht an die Arbeit gegangen, de Kooning zu imitieren, und hatte auch nicht bewußt an ihn gedacht, als er mit dem Bild anfing, aber es war kein Zweifel, daß das Bild aussah wie ein Porträt in de Koonings Stil. Mme. Annettes blasse Lippen öffneten sich zu einem grellrosa Lächeln, die Zähne waren deutlich fahlweiß und ungleichmäßig. Sie trug ein blaßrosa Kleid mit weißen Rüschen am Hals. Das alles war mit breitwischendem Pinsel und langen Strichen aufgetragen. Zur Vorbereitung für das Bild hatte Tom im Wohnzimmer mehrere hastige Skizzen von Mme. Annette auf einen Block gestrichelt. Mme. Annette hatte nichts davon gemerkt.
Es blitzte. Tom richtete sich auf und holte tief Atem; die Brust tat ihm weh von der Anspannung. Aus seinem Transistor kam von France Culture ein Interview mit einem Schriftsteller, dem dabei nicht allzu wohl zu sein schien: »Ihr Buch, M. Hublot . . . erscheint mir . . . (Knakken) – damit entfernen Sie sich – wie mehrere Kritiker geäußert haben – von Ihrer bisherigen Protesteinstellung gegen den Begriff des Anti-Sartrismus. Nur scheint es mir jetzt eher wie . . .« Tom schaltete ab.
Jetzt kam ein gefährlich prasselndes Knacken aus nicht weiter Entfernung in der Richtung des Waldes. Tom blickte aus dem Fenster. Noch bogen sich die Wipfel der Föhren und Pappeln, aber wenn dort Bäume umgefallen waren, so hätte er es in dem graugrünen Halbdunkel auch nicht erkennen können. Vielleicht fiel irgendein Baum – er brauchte nur klein zu sein – genau über die verdammte Grabstelle. Tom hoffte es inständig. Er war gerade dabei, ein rötliches Braun für Mme. Annettes Haar zurechtzumischen – er wollte das Bild gern heute fertigmachen –, als er unten Stimmen zu hören glaubte. Männerstimmen.
Er ging hinaus auf den Treppenflur.
Die Stimmen sprachen Englisch, doch was sie sagten, konnte er nicht verstehen. Es war Chris und noch jemand. Bernard, dachte Tom. Der Akzent war englisch. Herrgott, es war wirklich Bernard!
Sorgfältig legte Tom das Palettenmesser über die Tasse mit Terpentin. Er schloß die Tür hinter sich und ging nach unten.
Es war tatsächlich Bernard, der regennaß und recht mitgenommen auf der Fußmatte vor der Haustür stand. Es fiel Tom auf, wie dunkel die Augen aussahen und wie tief eingesunken unter den geraden schwarzen Brauen. Er sah erschreckt aus, verängstigt, dachte Tom. Und im nächsten Augenblick fand er, Bernard sehe aus wie der leibhaftige Tod.
»Bernard!« sagte Tom. »Willkommen!«
»Hallo«, sagte Bernard. Er hatte einen Seesack bei sich, der neben ihm lag.
»Dies ist Christopher Greenleaf – Bernard Tufts«, stellte Tom vor. »Ihr habt euch wohl schon bekannt gemacht.«
»Ja, das haben wir«, sagte Chris mit offenem Lächeln. Er freute sich offenbar über den neuen Gast.
»Hoffentlich stört es dich nicht, wenn ich – bloß so komme«, sagte Bernard.
Tom versicherte ihm, das sei ganz in Ordnung. Jetzt kam auch Mme. Annette, und Tom machte sie bekannt. Sie wollte Bernard den Mantel abnehmen.
Tom sagte auf Französisch zu ihr: »Vielleicht
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