Ripley’s Game oder Der amerikanische Freund
hatte die Tür wieder geschlossen.
Jonathan hockte auf dem Boden, die Knie unter dem Kinn, das Gewehr zu seiner Rechten. Wie lange mochte das dauern? Eine Stunde? Länger noch? Oder spielte Tom womöglich nur ein Spiel? Nein, das konnte und wollte er nicht glauben – Tom war durchaus bei Verstand, er glaubte, heute abend könne etwas passieren, und traf für den Fall der Fälle seine Vorkehrungen, was nur vernünftig war. Als sich dann ein Auto näherte, schrak Jonathan ängstlich zusammen und wäre am liebsten sofort ins Haus geflüchtet. Der Wagen fuhr so schnell vorbei, daß er durch die Büsche und das Tor nicht einmal einen Blick darauf erhaschen [284] konnte. Er lehnte die Schulter gegen einen schlanken Stamm, denn er wurde langsam müde. Fünf Minuten später lag er ausgestreckt auf dem Rücken, war aber immer noch wach. Die Kälte des Bodens kroch allmählich in seine Knochen. Sollte das Telefon wiederum klingeln, könnte es durchaus Simone sein. Ob sie wohl außer sich geraten und ein Taxi hierher nehmen würde? Oder ihren Bruder Gérard in Nemours anrufen und ihn bitten, sie in seinem Wagen hinzufahren? Das schon eher. Jonathan dachte nicht weiter darüber nach, es wäre so furchtbar, so absurd, einfach unvorstellbar. Wie sollte er erklären, daß er hier im Gebüsch auf der Lauer lag, selbst wenn sie das Gewehr nicht sähe?
Jonathan hörte die Tür aufgehen. Er mußte eingenickt sein.
»Nehmen Sie die Decke hier«, flüsterte Tom. Die Straße war leer. Tom trat heraus und gab Jonathan eine dicke Wolldecke. »Legen Sie sich die unter. Der Boden muß schrecklich kalt sein.« Erst bei seinem Flüstern wurde ihm klar, daß die Männer von der Mafia auch zu Fuß kommen und sich anschleichen könnten. Daran hatte er nicht gedacht. Ohne ein weiteres Wort kehrte er ins Haus zurück.
Tom ging die Treppe hinauf. Im Dunkeln peilte er an den Fenstern vorn und hinten die Lage. Anscheinend war alles ruhig. Etwa hundert Meter weiter links an der Straße zum Dorf leuchtete eine Straßenlampe, doch ihr heller Lichtkegel reichte nicht weit, gewiß nicht bis Belle Ombre. Überall Totenstille, doch das war normal.
Selbst durch die geschlossenen Fenster hätte man noch die Schritte eines Mannes auf der Straße hören können. [285] Tom hätte gern eine Platte aufgelegt. Gerade wollte er sich vom Fenster abwenden, als er ein leises Knirschen hörte: Jemand näherte sich auf dem Seitenstreifen neben der Straße. Dann bemerkte er auch den eher schwachen Lichtstrahl einer Taschenlampe, der von rechts in Richtung Villeperce wanderte. Sicher niemand, der nach Belle Ombre wollte, und so war es auch: Die Gestalt ging weiter, und er verlor sie aus dem Blick, bevor sie den Lichtkegel der Lampe erreichte. Ob Mann oder Frau, konnte er nicht sagen.
Vielleicht hatte Jonathan Hunger bekommen. Das ließ sich nicht ändern. Er selbst hatte auch Hunger. Doch das ließ sich natürlich ändern. Die Fingerspitzen auf dem Geländer, tastete er sich im Dunkeln die Treppe hinunter bis in die Küche, wo wie im Wohnzimmer Licht brannte, und machte ein paar Kaviarschnittchen. Der Kaviar stand im Kühlschrank, ein angebrochenes Glas vom Abend zuvor, die Arbeit war also schnell getan. Tom wollte gerade Jonathan einen Teller bringen, als er Motorengeräusche vernahm. Der Wagen fuhr von links kommend am Haus vorbei und hielt an. Eine Tür schlug zu, kaum hörbar, so als sei sie nicht richtig ins Schloß gefallen. Tom stellte den Teller auf die Kommode neben der Tür und zog seine Pistole.
Entschlossene Schritte, doch eher höflich und langsam, erst auf der Straße, dann auf dem Kies. Kein Bombenwerfer, dachte Tom. Es klingelte. Tom wartete einen Augenblick und fragte dann auf französisch: »Wer ist da?«
»Ich habe mich verfahren, bitte helfen Sie mir«, antwortete ein Mann in akzentfreiem Französisch.
Jonathan hatte mit dem Gewehr im Gebüsch gekauert, [286] seit er die Schritte vernommen hatte. Jetzt sprang er in dem Moment hervor, da er Tom den Riegel zurückschieben hörte. Der Mann stand zwei Stufen über ihm, doch Jonathan war fast auf gleicher Höhe und schwang den Kolben, so fest er nur konnte, gegen den Kopf des Mannes. Der mußte ihn gehört haben und wandte sich ihm zu, als Jonathans Schlag ihn hinter dem linken Ohr traf, knapp unter dem Hutrand. Der Mann wankte, fiel links gegen den Türrahmen und brach zusammen.
Tom öffnete die Tür und zog den Mann an den Füßen ins Haus; Jonathan half, indem er die Schultern hochhob,
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