Riptide - Mörderische Flut
auf den Kamm des Hügels zu, wurden die Gebäude zunehmend weniger und machten dunklen Fichtenhainen und kleinen, von Steinmauern umgebenen Wiesen Platz. Ganz oben auf dem Gipfel ragte der schlichte weiße Turm der Kongregrationskirche in den grauen Himmel. Auf der anderen Seite der Bucht erkannte Hatch das Haus, in dem er seine Kindheit verbracht hatte. Seine vier Giebel mit der schmalen Dachterrasse dazwischen lugten hinter einer Reihe von Bäumen hervor, neben denen eine lange Wiese hinunter zum Strand und dem Steg führte. Malin Hatch wandte den Blick ab und hatte plötzlich das Gefühl, als sei er ein anderer Mensch, der das alles mit fremden Augen betrachtete. Auf dem Weg zur Pier setzte er sich eine dunkle Sonnenbrille auf. Wegen der Brille und seiner inneren Unruhe kam er sich zwar ein wenig lächerlich vor, aber er verspürte bei diesen ersten Schritten in Stormhaven eine stärkere Aufregung als auf seinen Reisen, wenn er in Dörfer gekommen war, in denen die Menschen reihenweise an Denguefieber oder Beulenpest gestorben waren. Die Pier war eine von zwei Anlegestellen für kommerzielle Boote, die es in Stormhaven gab. Auf ihrer einen Seite stand eine Reihe von kleinen Holzhütten, in denen die Hummerfischer-Genossenschaft, eine Snackbar namens »Red Net's Eats«, ein Laden für Köderfische und einer für Angelausrüstung untergebracht waren. Am Ende der Pier gab es eine verrostete Tanksäule, ein paar Ladewinschen und hohe Stapel von zum Trocknen aufgestellten Hummerkörben. Kurz hinter der Hafeneinfahrt lag eine dichte Nebelwand über dem Meer, so daß Wasser und Himmel nicht mehr voneinander zu unterscheiden waren. Hatch hatte den Eindruck, als ob die Welt ein paar hundert Meter vor der Küste zu Ende sei. Das Gebäude der Hummerfischer-Genossenschaft mit seinen Holzschindelwänden war das erste auf der Pier. Der Rauch, der aus einem blechernen Kaminrohr kerzengerade in den Himmel stieg, zeigte Malin, daß drinnen gerade Hummer gekocht wurden. Er blieb an der Schiefertafel stehen, besah sich die Preise für die verschiedenen Hummergrößen -Chixs, Halves, Selects und Jumbos - und spähte in das Gebäude hinein, wo in einer Reihe von großen Becken verstörte Hummer zappelten, die man vor wenigen Stunden aus der Tiefe gezogen hatte. In einem extra Becken befand sich ein wahres Prachtexemplar, das hier wohl wegen seiner enormen Größe ausgestellt wurde.
Als Malin von dem Fenster zurücktrat, polterte gerade ein Hummerfischer in hohen Stiefeln und Ölzeug die Pier entlang. In der Hand hielt er einen Eimer mit stinkenden Köderfischen, den er an einer der Winschen befestigte und zu seinem Boot hinabließ. Als Kind hatte Malin diesen Vorgang unzählige Male beobachtet. Er kannte die Rufe der Fischer und das Tuckern der Schiffsdiesel, mit dem. die Hummerboote von der Pier ablegten und dann Kurs hinaus aufs Meer nahmen, gefolgt von einem Schwarm heiser kreischender Möwen. Er sah zu, wie das Boot im Nebel verschwand, der langsam anfing, sich aufzulösen. Schon tauchte Burnt Head, ein großer Granitfelsen, südlich der Stadt aus den. Schwaden auf, und bald würde man bis zu den Inneren Inseln sehen können. Ganz leise vernahm Hatch die Brandung, die sich am Fuß von Burnt Head brach. Oben auf den Klippen erhob sich zwischen Stechginster und Heidelbeerpolstern ein Leuchtturm aus Steinquadern, dessen rot-weiß gestreifter Anstrich zusammen mit seinem Kupferdach einen wohltuenden Farbtupfer im monotonen Hellgrau des Nebels darstellte.
Während Malin am Ende der Pier die eigentümlich nach Köderfischen, Salz und Dieselqualm riechende Luft einsog, begann seine Abwehrmauer, die er in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren gegen diese Stadt aufgebaut hatte, langsam einzubrechen. Die Zeit schien wie ausgelöscht, und ein starkes, bittersüßes Gefühl schnürte ihm die Brust zusammen. Nun war er doch an diesen Ort zurückgekehrt, von dem er geglaubt hatte, daß er ihn niemals wiedersehen würde. In ihm selbst hatte sich soviel verändert, während hier die Zeit stehengeblieben schien. Auf einmal fiel es Malin schwer, seine Tränen zurückzuhalten.
Hinter sich hörte er eine Autotür schlagen, und als er sich umdrehte, sah er Gerald Neidelman, der gerade aus einem Geländewagen stieg und mit festen, federnden Schritten die Pier entlangkam. Das Gesicht des Mannes verströmte gute Laune, aus einer Pfeife zwischen seinen Zähnen stieg blauer Rauch auf, und seine Augen funkelten vor sorgfältig kontrollierter, aber
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