Riptide - Mörderische Flut
einer dämonischen Nähmaschine klang, und sah, wie dort, wo noch vor einer Sekunde das Dingi gewesen war, die Nadeln der Fléchette das Wasser zum Brodeln brachten. Das Dingi schoß am Heck der »Cerberus« vorbei und warf sich in die stürmische See. Es tanzte wie eine Nußschale und nahm an seinem zerschossenen Bug viel Wasser über. Mit aufbrüllenden Dieselmotoren schwang die »Cerberus« herum. Bonterre legte das Dingi so hart nach backbord, daß sie es fast umwarf, und hielt direkt auf die Pier von Ragged Island zu.
In der sturmgepeitschten See hatte der kleine Außenborder des Bootes natürlich keine Chance gegen die mächtigen Maschinen der »Cerberus«, und so sah Hatch, wie das Schiff ihnen immer näher kam. Bald würde es ihnen den Weg zu dem kleinen Kanal abschneiden, der die einzige Durchfahrt durch die Riffe darstellte.
»Halten Sie aufs Riff zu!« rief Hatch. »Wenn Sie eine hohe Welle abpassen, trägt sie uns vielleicht darüber hinweg. Dieses Dingi hat kaum dreißig Zentimeter Tiefgang!«
Bonterre riß das Boot herum und ging auf den neuen Kurs. Die »Cerberus« gab ihre Verfolgung jedoch nicht auf und kam durch das aufgewühlte Wasser unaufhaltsam näher.
»Tun Sie so, als würden Sie vor dem Riff abdrehen!« rief Hatch.
Bonterre tat, was er sagte, und steuerte das Dingi knapp außerhalb der brodelnden Brandung am Riff entlang.
»Jetzt glaubt er bestimmt, daß er uns in der Falle hat«, sagte Hatch, als er sah, daß die »Cerberus« ebenfalls herumschwenkte. Da erschütterte eine krachende Explosion das Beiboot, und einen Augenblick lang atmete Hatch nichts als Salzwasser ein. Als sie wieder aus der Gischt auftauchten, sah er, daß die Harpune an Backbord die halbe Bordwand weggerissen hatte.
»Lassen Sie sich von der nächsten Welle übers Riff spülen!« schrie er. »Das ist unsere letzte Chance!«
Einen quälend langen Augenblick dümpelten sie vor dem Riff dahin, dann brüllte Hatch: »Jetzt!«
Als Bonterre das schwer beschädigte Dingi in die schäumende Wasserhölle steuerte, explodierte in unmittelbarer Nähe die nächste Harpune. Hatch hörte ein seltsam knirschendes Geräusch und wurde gleich darauf hoch in die Luft geschleudert. Dann war rings um ihn nichts als brodelndes Wasser, in dem die Wrackteile des Dingis tanzten, und das Geräusch der sich am Riff brechenden Welle. Er spürte, wie ihn etwas nach unten zog, tiefer und immer tiefer, und nach einem kurzen Moment der Panik wurde alles auf einmal ganz still und friedlich.
47
Woody Clay rutschte auf einem Flecken Seegras aus und schlug sich so schmerzhaft das Schienbein an, daß er fast den Namen des Herrn verunglimpft hätte. Die Felsen am Strand waren mit glitschigen Algen bedeckt, weshalb Clay beschloß, daß es besser war, sich auf allen vieren fortzubewegen. Jeder einzelne Körperteil tat ihm weh, seine Kleidung war zerrissen und die Schmerzen in seiner Nase waren kaum auszuhalten. Außerdem fror er so sehr, daß seine Glieder sich taub anfühlten. Dennoch empfand er eine Lebendigkeit wie seit vielen, vielen Jahren nicht. Fast hatte er schon vergessen, wie schön diese wilde Erregung des Geistes war. Die gescheiterte Protestaktion hatte keine Bedeutung mehr für ihn, und wenn er es genau nahm, dann war sie ja eigentlich auch gar nicht gescheitert, denn immerhin hatte sie ihn auf diese Insel gebracht. Gottes Wille nahm oft seltsame Wege, und Clay war klar, daß der Herr ihn aus einem ganz bestimmten Grund hierher nach Ragged Island geschickt hatte. Bestimmt hatte er hier eine Aufgabe von enormer Wichtigkeit zu erfüllen. Woraus diese Aufgabe genau bestand, wußte Clay zwar nicht, aber er war zuversichtlich, daß ihm das zu gegebener Zeit mitgeteilt werden würde.
Er krabbelte über die Hochwasserlinie hinweg, stand auf und hustete den Rest von Salzwasser aus seinen Bronchien. Mit jedem Husten schoß ein schlimmer Schmerz durch seine zertrümmerte Nase, aber Clay schenkte ihm keine Beachtung. Was hatte der heilige Lorenz, erfüllt vom Feuer der göttlichen Liebe, dem römischen Statthalter gesagt, als dieser ihn über glühenden Kohlen braten ließ? »Jetzt kannst du mich umwenden lassen, mein Leib ist auf dieser Seite genug gebraten.«
Als Clay ein Junge gewesen war und seine Schulkameraden Hardy-Boys-Romane oder die Biographien von berühmten Baseballstars gelesen hatten, war seine Lieblingslektüre »Das Große Buch der Märtyrer« gewesen. Selbst heute, als Pfarrer der Kongregationskirche, sah er nichts Falsches
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