Riptide - Mörderische Flut
die sich bis zu Macallans Tagen mit der Kunst der Kryptographie befassen.«
»Die Titel klingen noch schlimmer als die der Lehrbücher im zweiten Jahr meines Medizinstudiums.«
»Aber sie sind bestimmt faszinierender«, entgegnete St. John mit einem Anflug von Enthusiasmus in der Stimme.
»War die Verwendung von Geheimschriften denn damals weit verbreitet?« fragte Hatch.
St. Johns Lachen hörte sich an wie das Bellen eines Seehunds und ließ seine geröteten Wangen erbeben. »Üblich? Geheimschriften waren überall gang und gäbe, wo es um Diplomatie oder Kriegshandwerk ging. Die englische wie die spanische Regierung unterhielten spezielle Abteilungen für das Ersinnen und Entschlüsseln von Geheimcodes. Selbst auf Piratenschiffen gab es bisweilen Burschen, die solche Codes knacken konnten. Schließlich enthielten die Ladepapiere oft verschlüsselte Mitteilungen von großer Bedeutung.«
»Und was waren das für Codes?«
»Normalerweise handelte es sich dabei um sogenannte Nomenklaturen, das sind lange Listen mit Wörtern, die für andere Wörter stehen. So bedeutete in manchen Mitteilungen zum Beispiel das Wort ›Adler‹ den englischen König George, während ›Narzissen‹ Dublonen waren und so weiter. Manchmal gab es auch einfache Ersatzalphabete, bei denen ein Buchstabe, eine Zahl, ein Symbol für einen anderen Buchstaben stand, und zwar immer für denselben.«
»Und was verwendete Macallan für eine Geheimschrift?«
»Der erste Teil des Tagebuchs ist in einem ziemlich cleveren monophonischen Substitutionscode geschrieben, und beim zweiten Teil haben wir die Methode noch nicht herausgefunden.«
»Das ist meine Aufgabe«, erklärte Wopner mit einer Mischung aus Stolz und Eifersucht in der Stimme. »Ich habe alles in meinem Computer.« Er drückte auf eine Taste, und auf dem Bildschirm erschien eine lange Reihe unverständlicher Zahlen- und Buchstabenkombinationen:
AB3 RQB7 E5OLA W lEW D8P 0L QS9MN WX 4JR 2K WN 18 N7 WPODO EKS N3T YX ER9 W DEI FK IE DF9F DFS K DK F6RE DF3 V3E IE4DI 2F 9GE DF W FEIB5 MLER BLK BV6 FI PET B0P IBSDF K2LJ BVF EIO PU0ER WB13 0PDJK LBL JKF
»Das hier ist ein nach dem ersten Code verschlüsselter Text«, sagte er.
»Und wie haben Sie ihn entschlüsselt?«
»Aber ich bitte Sie. Das ist doch wirklich einfach. Die Buchstaben des Alphabets kommen im Englischen in unterschiedlicher Häufigkeit vor. E ist zum Beispiel der am meisten verwendete Buchstabe, während X am seltensten gebraucht wird. Auf dieser Basis kann man ein sogenanntes Kontaktdiagramm zwischen den Codesymbolen und den Buchstaben erstellen, und schon hat man, was man will. Den Rest erledigt der Computer.«
St. John machte eine abfällige Handbewegung. »Kerry programmiert den Computer, damit dieser den Code knacken kann, aber ich liefere die historische Grundlage dafür. Ohne die alten Chiffriertabellen wäre der Computer völlig hilflos. Er weiß schließlich auch nur das, was man ihm eingibt.«
Wopner drehte sich in seinem Stuhl herum und schaute St. John durchdringend an. »Hilflos? Daß ich nicht lache! Big Mama hätte diesen Code auch ohne Ihre geliebten Chiffriertabellen geknackt, darauf können Sie Gift nehmen. Es hätte lediglich ein wenig länger gedauert, mehr auch nicht.«
»Ja, so lange wie zwanzig Schimpansen brauchen, um durch zufälliges Herumgetippe auf einer Computertastatur den ›König Lear‹ zu produzieren.« St. John ließ ein weiteres bellendes Lachen hören.
»Sehr witzig. Aber wahrscheinlich wären die immer noch schneller als unser Freund St. John mit seinem Zweifinger-Suchsystem auf seiner vorsintflutlichen Schreibmaschine dort drüben. Mein Gott, Chris, kaufen Sie sich doch endlich einen Laptop.« Wopner wandte sich wieder an Hatch. »Kurz und gut: Schauen Sie sich einfach an, was wir entschlüsselt haben.«
Auf ein paar rasche Tastenkombinationen hin teilte sich der Bildschirm, so daß der verschlüsselte Text auf der einen und übersetzter Klartext auf der anderen Seite zu sehen waren. Hatch fing gespannt an zu lesen:
Der 2te Juni, anno domini 1696. Der Pirat Ockham hat unsere Flotte gekapert, die Schiffe versenkt und jede lebende Seele an Bord abgeschlachtet. Unser Kriegsschiff hat feige die Flagge gestrichen, ohne den Kampf zu wagen, und der Kapitän wimmerte bei seiner Hinrichtung wie ein kleines Kind. Nur ich wurde verschont, in Ketten geschlagen und sofort in Ockhams Kabine gebracht, wo der Unhold mir mit dem Säbel drohte und sagte: »Soll Gott doch seine verdammte Kirche
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