Riptide - Mörderische Flut
Johns Gesicht breitmachte.
12
Hatch öffnete die Tür an der Hinterwand des Schlafzimmers seiner Eltern und ging hinaus auf den kleinen Balkon. Obwohl es erst halb zehn Uhr abends war, schlief Stomhaven bereits tief und fest. Ein angenehm kühler Nachtwind raschelte, in den Bäumen hinter dem alten Haus und strich Hatch über Wangen und Hals. Er legte zwei Schnellhefter aus schwarzem Karton auf den wettergebleichten alten Schaukelstuhl und trat vor ans Geländer.
Auf der anderen Seite des Hafens sah er die Lichter der Stadt, deren Straßen und Plätze steil zum Wasser hinunterführten. Es war so still, daß Hatch hören konnte, wie die Kieselsteine in der Brandung hin und her rollten und die Stagen gegen die Masten der an der Pier festgemachten Boote schlugen. Über dem Eingang zu Buds Supermarkt brannte eine einzelne nackte Glühbirne, und auf den Straßen schimmerte das Kopfsteinpflaster im Licht des Mondes. Etwas weiter entfernt ragte die schlanke Silhouette des Leuchtturms am Burnt Head in den Nachthimmel.
Fast hätte sich Hatch nicht mehr an den kleinen Balkon erinnert, der halb verborgen direkt unter dem Giebel des alten Hauses aus der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts lag. Aber jetzt, als er an dem Holzgeländer stand, überfielen ihn wahre Heerscharen von Erinnerungen. Hier hatte er mit Johnny um Mitternacht Poker gespielt, während seine Eltern auf einem Geburtstagsfest in Bar Harbor gewesen waren. Die beiden Jungen hatten nach den Lichtern des Autos Ausschau gehalten und sich dabei unartig und erwachsen zugleich gefühlt. Jahre später hatte Hatch von demselben Balkon aus hinüber zum Haus der Northcutts gespäht und gehofft, einen Blick auf Claire zu erhaschen, wenn sie an ihr Schlafzimmerfenster trat.
Claire …
Gelächter und leises Stimmengeplapper holten Hatch zurück in die Gegenwart. Angestellte von Thalassa wechselten vor der Tür der einzigen Pension des Ortes gerade noch ein paar Worte. Dann gingen sie hinein, und es kehrte wieder Stille ein.
Hatch ließ seine Blicke langsam an den Fassaden der Häuser entlanggleiten. Das blaue Mondlicht verwandelte die roten Ziegelsteine der Stadtbücherei in ein kühles Rosa und zeichnete bizarre Schattenmuster auf das große Pfarrhaus hoch oben auf dem Hügel, das einzige im Stick Style erbaute Gebäude in weitem Umkreis. Gleich darunter stand das windschiefe Haus von Bill Banns, das zu den ältesten in der Stadt zählte.
Hatch blieb noch einen Moment am Geländer stehen und blickte hinaus übers Meer, wo irgendwo in der Dunkelheit Ragged Island lag. Dann ging er leise seufzend zurück zum Schaukelstuhl und nahm die beiden Schnellhefter zur Hand.
Der erste enthielt den Computerausdruck der bereits entschlüsselten Teile von Macallans Tagebuch. Genau wie St. John es gesagt hatte, beschrieb der Text in knappen Worten, wie Ockham den Architekten gefangengenommen und gezwungen hatte, für ihn eine Schatzkammer zu erbauen, aus der nur der Freibeuter selbst das Gold wieder herausholen konnte. Macallans Verachtung für den Kaperkapitän und seine Abneigung gegen dessen barbarische Mannschaft sprachen ebenso aus jedem einzelnen Satz wie seine Bestürzung über die rauhen und ausschweifenden Sitten an Bord der Piratenschiffe. Rasch hatte Hatch das kurze Tagebuch ausgelesen. Als er es beiseite legte, fragte er sich, wie lange Wopner wohl noch zur Entschlüsselung der zweiten Hälfte brauchen würde. Bevor Hatch seine Kabine verlassen hatte, hatte Wopner sich noch bitter über seine Doppelbelastung beklagt. »Dieses verdammte Netzwerk aufzubauen ist eine Arbeit für Klempner und nicht für einen Programmierer wie mich. Aber der Kapitän gibt einfach keine Ruhe, bis Streeter und er den Laden alleine schmeißen können. Sicherheitsbestimmungen, meine Fresse! Sie werden's noch erleben: Sobald das Zeug installiert ist, werden die ganzen Landvermesser und Techniker nach Hause geschickt. Das war's dann für sie.«
»Irgendwie leuchtet mir diese Vorgehensweise ein«, hatte Hatch erwidert. »Wozu sollte Neidelman überflüssiges Personal beschäftigen? Davon abgesehen würde ich lieber einen brandigen Madurafuß behandeln als hier in dieser Kabine zu sitzen und auf einen wirren Haufen von Buchstaben und Zahlen zu starren.«
Hatch erinnerte sich, wie Wopner verächtlich die Lippen geschürzt hatte. »Da kann man mal sehen, wie wenig Ahnung Sie haben. Ihnen mag das ja vielleicht wie ein wirrer Haufen vorkommen, aber ich sehe darin einen Typen, der den ganzen
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