Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft (German Edition)
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Neben dem Katastrophenpotential (Schockrisiko) mag es einen historischen Grund für die deutsche Furcht vor der Kerntechnik geben. Wie die Österreicher lebten die Deutschen während des Kalten Krieges unmittelbar an der Grenze des Ostblocks und hätten unter einem Kernwaffenkrieg besonders zu leiden gehabt.
Amerikaner haben vergleichsweise wenig Angst vor Strahlung. Von den 20er- bis in die 60er-Jahre hinein boten tonangebende amerikanische Schuhgeschäfte Kindern die aufregende Gelegenheit, ihre Füße in einem Röntgengerät zu betrachten. Werbespots im Rundfunk versprachen Eltern, dass die Gesundheit ihrer Kinder fortan dank des Schuh-Fluoroskops nicht mehr durch schlecht sitzende Schuhe gefährdet werde. Schließlich wurde dieser Marketing-Gag verboten, nachdem Schuhverkäufer Dermatitis bekamen, weil sie ihre Hände in dem Röntgenstrahl bewegten. Wie erwähnt, werden heute im US -Gesundheitswesen Röntgenuntersuchungen und Computertomografie aggressiv vermarktet als Mittel, um Krankheiten frühzeitig, rasch und schmerzlos zu entdecken.
Kulturen unterscheiden sich jedoch nicht nur in dem, was sie fürchten, sondern auch in dem, was sie beruhigend finden. Auch vieles von dem, was uns beruhigt, ist sozial gelernt.
Beruhigung
Sie sind müde, haben Kopfschmerzen und unbestimmte Verdauungsbeschwerden. Sie beschließen, einen Arzt aufzusuchen. Wenn das in Frankreich geschieht, wird die Diagnose in vielen Fälle lauten, dass Ihre Symptome mit der Leber zu tun haben: une crise de foie , also eine »Leberkrise«. Offenbar ist das ein Leiden, das nur Franzosen befällt. Nach Überzeugung vieler Franzosen ist für ihre Nationalkrankheit gutes Essen und Trinken verantwortlich. Wenn Sie Franzose sind und diese Diagnose hören, werden Sie höchstwahrscheinlich beruhigt sein. Nur die Leber! Nichts Unerwartetes. Ein Amerikaner wäre – wie die meisten Menschen auf der Erde – höchst betroffen, würde man ihm mitteilen, dass mit diesem Organ etwas nicht stimmt. 85
Gingen Sie zu einem deutschen Arzt, so würde er wahrscheinlich diagnostizieren, dass Sie etwas am Herzen haben: Probleme mit dem Kreislauf, beispielsweise einen zu niedrigen Blutdruck. Eine häufige Erkrankung in Deutschland. Diese Diagnose wird einen deutschen Patienten vermutlich beruhigen. Wieder einmal nichts Überraschendes. Niedriger Blutdruck wird in Deutschland ernst genommen, ein Zustand, der medikamentös behandelt werden muss, während Amerikaner, die sich vor der entgegengesetzten Diagnose fürchten, die Behandlung eines niedrigen Blutdrucks wohl eher als Kunstfehler einordnen würden.
Ein amerikanischer Arzt schließlich würde vermutlich nach einem »Virus« suchen. Das würde amerikanische Patienten beruhigen, französische und deutsche hingegen alarmieren. Während Leber- und Herzleiden darauf schließen lassen, dass die Ursache innen zu suchen ist, geht die amerikanische Vorstellung davon aus, dass der Körper an sich gesund ist und der Feind von außen kommt.
Wenn Ärzte nicht wissen, was ihren Patienten fehlt, neigen sie dazu, die Symptome einer Ursache zuzuschreiben, welche die Menschen beruhigt: der Leber, dem Kreislauf oder einem Virus. Beruhigung heißt nicht unbedingt, dass die Menschen die Krankheit für harmlos halten, sondern dass es nichts Ungewöhnliches ist. Eine solche Ersatz- oder Beruhigungskategorie gibt es aber nicht nur bei Franzosen, Deutschen und Amerikanern. In Großbritannien beispielsweise würde der Arzt seinem Patienten wahrscheinlich eine affektive Störung oder Depression attestieren.
Auch die Behandlungsarten hängen von der Kultur ab. Deutsche haben eher eine romantische Beziehung zu ihrem Herzen, während Amerikaner es häufiger als eine mechanische Pumpe ansehen und es entsprechend behandeln: Sie willigen weit öfter in koronare Bypassoperationen ein als Deutsche und andere Europäer. Chinesen dagegen stehen chirurgischen Eingriffen eher ablehnend gegenüber und sehen körperliche Gesundheit unter der Perspektive von Harmonie. Der Gedanke, einen funktionsgestörten Körperteil zu entfernen, ohne seine Beziehung zu anderen Teilen zu berücksichtigen, erschiene ihnen viel zu simpel, um ihn in Erwägung zu ziehen. 86 Alles in allem führt soziales Lernen zu einem paradoxen Ergebnis. In Frankreich, Deutschland, Italien, Großbritannien und den USA haben die Überzeugungen von Ärzten über Ernährung und Gesundheit – etwa über die Einnahme von Vitaminzusätzen und die Ausübung von Sport –
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