Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft (German Edition)
mögliche Nebeneffekte zu klären, unter anderem Libidoverlust und Impotenz: »Wenn Sie das Medikament nehmen, besteht eine 30- bis 50-prozentige Wahrscheinlichkeit, dass Sie ein sexuelles Problem bekommen.« Viele Patienten wurden daraufhin nervös und wollten das Mittel nicht nehmen. Schließlich erkannte er das Problem und änderte seine Formulierung: »Von zehn Patienten, denen ich das Medikament verschreibe, berichten drei bis fünf über ein sexuelles Problem.« Daraufhin hatten einige Patienten weniger Bedenken gegen das Mittel. Wie kommt das?
In seiner ursprünglichen Erklärung hatte der Psychiater an seine Patienten als Referenzklasse gedacht und angenommen, diese täten das Gleiche. Doch bei Nachfrage erwies sich, dass sie etwas ganz anderes vor Augen gehabt hatten: Viele hatten geglaubt, sie würden in 30 bis 50 Prozent ihrer sexuellen Begegnungen Schwierigkeiten bekommen. Wenn Sie das Leben eher durch eine rosarote Brille sehen, macht Sie die Mitteilung »drei bis fünf Patienten von zehn« nicht nervös, weil Sie denken, das seien die anderen. Doch selbst die größten Optimisten verlieren ihre Zuversicht, wenn die Zahl sich auf ihre eigenen sexuellen Begegnungen bezieht. Infolgedessen verringerte sich die Bereitschaft, das Mittel zu nehmen. Erst als der Psychiater nicht mehr von der Wahrscheinlichkeit eines einzelnen Ereignisses sprach und zu einer Häufigkeitsaussage überging, die automatisch eine Referenzklasse angibt, legte sich die Verwirrung.
Angeregt von der Geschichte meines Freundes, fragten wir ältere Erwachsene mit unterschiedlichen Rechenfähigkeiten nach der Bedeutung der Aussage »eine Wahrscheinlichkeit von 30 bis 50 Prozent, ein sexuelles Problem zu entwickeln«. 149 Wenn die Intelligenz für das Verständnis der Frage ausschlaggebend ist, müsste hohe oder niedrige Rechenfähigkeit für große Unterschiede bei der Beantwortung der Frage sorgen. Liegt das Problem jedoch in der Art und Weise begründet, wie das Risiko kommuniziert wird, dann sollte die Rechenfähigkeit nur kleinere Abweichungen zur Folge haben.
Nur ein Drittel der Menschen mit niedriger Rechenfähigkeit und ein paar Prozentpunkte mehr derjenigen mit höherer Rechenfähigkeit verstanden, was mit der Wahrscheinlichkeit von 30 bis 50 Prozent gemeint war (Bedeutung 1). Als wir jüngere Erwachsene befragten, wählten mehr als zwei Drittel Bedeutung 1, aber es gab wiederum nur wenig Unterschied zwischen hoher und niedriger Rechenfähigkeit. Das Ergebnis zeigt, dass Rechenfähigkeit – die Befähigung zum Umgang mit Zahlen – so gut wie keinen Unterschied bewirkt. Das Problem liegt weniger an der Intelligenz der Menschen als an den Experten, die nicht mitteilen können, was sie meinen.
135 Darwin 1887/1969, S. 232–233. Zitiert nach Gigerenzer und Gaissmaier 2006. Vgl. auch Gigerenzer und Todd 1999, S. 7–15, zu einer eingehenderen Analyse von Darwins Entscheidungsfindung.
136 Vgl. Gigerenzer, Hertwig und Pachur 2011.
137 Billari et al. 2007.
138 Benjamin Franklin war Wissenschaftler, Staatsmann und ein bedeutender Vertreter der Aufklärung. Seine »moralische Algebra« ist eine frühe Version des modernen Utilitarismus. In seiner Ethik unterscheiden sich die Wüstlinge und Trunkenbolde von anderen Menschen nur dadurch, dass sie ihre Risiken nicht richtig berechnen. Franklin 1779.
139 Finkel et al. 2012.
140 Franklin 1745.
141 Bearden, Rapoport und Murphy 2006.
142 Miller 2000.
143 Todd, Billari und Simão 2005; Todd und Miller 1999.
144 Gigerenzer, Galesic und Garcia-Retamero 2013.
145 Zitiert in Gigerenzer 2007, S. 81.
146 Ortmann et al. 2008; Barber und Odean 2001.
147 Becker 1991.
148 Hertwig, Davis und Sulloway 2002.
149 Wir fragten 73 Erwachsene im Alter von 60 bis 77 Jahren (Gigerenzer und Galesic 2012).
Kapitel 9
Was Ärzte wissen müssen
Die Medizin der Gegenwart ist mit der Kirche im Mittelalter zu vergleichen. Was wir brauchen, ist ein Zeitalter der medizinischen Reformation. Wenige Ärzte sind zum Beispiel geschult, wissenschaftliche Arbeiten zu verstehen oder zu beurteilen. Ich bin u. a. deshalb Chirurg geworden, weil ich zwei Dinge vermeiden wollte: Psychologie und Statistik.
Ich bin damit gescheitert. Beides ist lebensnotwendig, um als Arzt verantwortungsbewusst handeln zu können.
Günther Jonitz, Präsident der Berliner Ärztekammer
Ihre Mutter oder Schwester geht zur routinemäßigen Brustkrebs-Früherkennung durch Mammografie. Sie erhält einen positiven Befund und ist in
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