Riskante Versuchung
Gefühl nicht los, dass ebenso gut sie diese tote Frau hätte sein können.
5. KAPITEL
„Robert Carpenter. Spitzname Rob. Geboren am 13. September 1962 in Jersey City, New Jersey“, sagte Rob laut, während er den Rasierer im Badezimmerwaschbecken ausspülte. Es half, sich jeden Morgen aufzusagen, wer er war und woher er kam. Er beendete die Rasur und betrachtete sich im Spiegel. „NYU, Abschluss ‚85 in Computerwissenschaft. Auszeit zwischen dem zweiten und dritten Studienjahr, um die Westküste zu bereisen. Bekam direkt nach der Uni einen Job bei Digital, wechselte kurz vor der Entlassungswelle zu einem kleinen Softwareunternehmen, das inzwischen pleitegegangen ist. Vor knapp einem Jahr nach Sarasota gezogen.“
Er wusch sich das Gesicht, spritzte Wasser auf beide Wangen und sah sich erneut in seine gewöhnlichen braunen Augen. „Interessiert sich für Bücher, Folkmusik und Filme. Absolut langweiliger Typ.“
Rob beugte sich näher zum Spiegel und versuchte zu erkennen, was Jess sah, wenn sie ihm in die Augen schaute. Es blieb ihm ein Rätsel.
Dafür wusste er genau, was er in ihr sah. Sie war eine lebhafte, fröhliche, freundliche Lady, gesegnet mit einem sonnigen Gemüt und der Fähigkeit, selbst angesichts von Katastrophen zu lächeln. Tatsächlich kannte Rob sie besser, als er sich selbst neuerdings kannte. Sie war ihm bereits an dem Tag aufgefallen, als er nach Sarasota gezogen war. Monatelang hatte er sie beobachtet. Er hatte ihr beim Spielen mit ihrer Tochter im Garten zugesehen und sie um die Liebe beneidet, die sie ganz offensichtlich verband. Manchmal war er ihnen samstags zum Strand oder zum Einkaufen gefolgt. In jüngster Zeit, nachdem sie ihn - als Freund und als Mieter - an ihrem Leben hatten teilhaben lassen, sprach Jess ohne Zurückhaltung von ihren wunderbaren Eltern und ihrer glücklichen Kindheit. Rob hatte davon fantasiert, ein ständiger Teil ihrer perfekten kleinen Welt zu werden.
Und nicht nur darüber hatte er sich Illusionen hingegeben.
Jess. Ja, auch von ihr hatte er ausgiebig geträumt.
Doch jetzt ging er ihr aus dem Weg.
Die vergangenen Tage waren die Hölle gewesen. Jeden Tag war er frühmorgens zur Arbeit aufgebrochen und erst spätabends nach Hause gekommen.
Dabei sehnte er sich danach, Jess zu sehen, mit ihr zu reden, sie zu berühren. Es stimmte - das Projekt, an dem er momentan arbeitete, erforderte es, Überstunden zu machen. Aber längst nicht so viele, dass er gezwungen war, bis Mitternacht im Betrieb zu bleiben. Er kam nur deshalb so spät nach Hause, damit er Jess nicht über den Weg lief. Er wusste, dass er der Verlockung nicht widerstehen könnte. Die Erinnerung an den Kuss war noch zu lebendig …
Doch egal, wie spät Rob von der Arbeit nach Hause kam, am Ende lag er doch den Großteil der Nacht wach. Und wenn er dann endlich einschlief, träumte er davon, zu Jess‘ Leben zu gehören. Er träumte davon, normal zu sein, ein Ehemann und Vater.
Aber mit dem heraufdämmernden Morgen kehrte er stets in die Wirklichkeit zurück. Er schleppte sich aus dem Bett und ins Badezimmer. Und dort, im Spiegel, starrte er sein Gesicht mit den rot geränderten Augen an und erkannte wieder einmal, dass er niemals normal gewesen war und es auch niemals sein würde.
Welches Recht hatte er, davon zu träumen, für Kelsey die Vaterrolle einzunehmen? Sein eigener Vater war jedenfalls ein lausiges Vorbild gewesen. Das Einzige, was sein Vater ihm beigebracht hatte, war, wie man ein Kind nach Strich und Faden verprügelte. Wie man es demütigte und sein Selbstwertgefühl zerstörte. O ja, und er hatte von seinem lieben toten Vater gelernt, wie man jemanden einschüchterte und ihm wehtat, ohne äußere Spuren zu hinterlassen. Sein Vater hatte es verstanden, Furcht und Hass zu säen.
Wie du mir, so ich dir.
Rob zog sich an, trug seinen Koffer zum Wagen und stieg die Verandastufen hinauf, um an Jess‘ Küchentür zu klopfen.
Er holte tief Luft und versuchte, seine Nervosität in den Griff zu bekommen. Ja, er würde sie sehen, aber nur ganz kurz.
Nachdem er geklopft hatte, wartete er, während er Jess in der Küche hörte, bevor sie schwungvoll die Tür öffnete. Erwartungsvoll starrte Jess ihn durch das Fliegengitter an. Sie trug Shorts und T-Shirt und war barfuß. Ihre Haare waren ein wenig zerzaust, als hätte sie es nicht geschafft, sie zu bürsten. Ihre Miene verriet Wachsamkeit.
„Hallo“, begrüßte er sie und wünschte, sie würde lächeln. Doch er wusste, dass sie das
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