Riskante Versuchung
mir ja selbst nicht einmal sicher“, gestand er.
„Erzähl mir nur etwas … erzähl mir wenigstens irgendetwas aus deiner Kindheit“, bat sie. „Erzähl mir etwas … über deine Mutter.“
Rob schwieg eine Weile. Seine Mutter. Was sollte er über sie erzählen? Vielleicht die Wahrheit. Konnte es wirklich schaden, dieser Frau an seiner Seite einen winzigen Einblick in die Wahrheit zu gewähren? „Ich habe meine Mutter mehr als irgendwen sonst auf der Welt geliebt“, sagte er. Das Wort „Mutter“ fühlte sich seltsam an, als er es aussprach. Es war so lange her, dass er mit jemandem über sie gesprochen hatte. Er nahm etwas Sand in die Hand und beobachtete, wie er durch seine Finger rann. Dann schaute er Jess wieder an. „Sie starb, als ich ungefähr in Kelseys Alter war.“
„Das tut mir leid“, flüsterte Jess, und Rob wusste, dass sie es aufrichtig meinte.
„Du erinnerst mich an sie“, gestand er, und es fiel ihm jetzt leichter zu sprechen. „Ich meine, weniger vom Aussehen her, obwohl ihre Haarfarbe deiner glich. Sie trug ihr Haar auch kurz. Nein, ich meine eher deine Liebe zu Kelsey, deine Art, mit ihr zu sprechen. Als wäre sie ein echter Mensch.“
„Aber das ist sie“, sagte Jess ein wenig überrascht.
Rob musste lächeln. „Siehst du, das ist das Großartige an dir. Es kommt dir gar nicht in den Sinn, dass manche Leute ihre Kinder wie vergötterte Haustiere behandeln. Mein Vater gehörte zu den Menschen, die der Ansicht waren, Kinder dürfe man zwar sehen, aber nicht hören. Es sei denn natürlich, er war betrunken. Dann lief jedes Kind, das zu hören oder auch nur zu sehen war, Gefahr …“ Er hielt inne. Was erzählte er ihr da? „Aber du wolltest ja nur etwas über meine Mutter wissen.“
Jess wusste es. Er konnte es in ihren Augen sehen. Aus früheren Gesprächen wusste sie, dass sein Vater ihm wehgetan hatte. Unzählige Male.
„Wenn ich ehrlich bin, möchte ich alles über dich erfahren, was es zu wissen gibt“, erklärte sie. „Also erzähl mir ruhig von deinem Vater.“
Auf keinen Fall. Rob schloss die Augen und erinnerte sich an die brennenden Schläge mit der flachen Hand, die erstickende Dunkelheit von Schränken - immer wieder -, an die ewige Angst und den Schmerz.
„Bitte, ja?“
Rob zwang sich, die Augen zu öffnen und Jess wieder anzusehen. „Er war ein Monster“, sagte er tonlos. „Er ist vor ein paar Jahren gestorben. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.“
„Es muss schlimm gewesen sein, so aufzuwachsen.“
„Ich hätte nicht davon sprechen sollen.“
Jess schwieg einen Moment und schaute zu Kelsey, die Rad schlagend durch die sanfte Brandung tobte. „Wenn ich du wäre“, sagte sie schließlich, „wäre ich ziemlich stolz.“
Rob konnte seine Verblüffung nicht verbergen. „Worauf?“
„Darauf, das alles überstanden zu haben. Nein, nicht nur überstanden, sondern darüber hinaus ein so verlässlicher … na ja, netter Mensch geworden zu sein.“
Rob musste lachen. „O ja, ich bin wirklich nett.“ Er musste unbedingt aufhören zu reden. Er musste diese Unterhaltung beenden, und wenn es bedeutete, dass er dafür aufstand und wegging. Doch irgendetwas veranlasste ihn, sitzen zu bleiben und in Jess‘ wunderschöne dunkle Augen zu sehen. „Nein, du irrst dich. Mein Vater war ein Ungeheuer, und sein Blut fließt durch meine Adern.“
Sie wirkte geschockt. „Aber du bist kein Ungeheuer.“
„Wie kannst du dir da so sicher sein?“
Jess antwortete nicht. Sie rührte sich auch nicht - bis Kelsey Wassertropfen verspritzend auf sie zugerannt kam.
„Wünsch dir was!“, schrie das kleine Mädchen. „Schnell, wünsch dir was für den grünen Blitz!“
Jess sah zur untergehenden Sonne, und Rob tat es ihr gleich. Das meiste der Sonne war schon nicht mehr zu sehen, nur die obere Wölbung reichte noch über den Horizont. „Kelsey hat recht“, sagte Jess. „Die Sonne geht unter. Achte auf den grünen Blitz.“
Zum Glück endete damit die bedrückte Stimmung. „Den was?“, fragte Rob.
Kelsey warf sich in den Sand, direkt zwischen sie.
„Den grünen Blitz“, erklärte Jess und beugte sich ein wenig vor, um Rob ansehen zu können, weil ihre Tochter jetzt zwischen ihnen saß. „In dem Augenblick, wenn die Sonne verschwindet, gibt es manchmal einen grünen Blitz am Himmel. Hast du das noch nie bemerkt?“
Rob schüttelte den Kopf.
Kelsey nahm seine Hand. „Du musst dir etwas wünschen“, sagte sie. „Und es geht leichter in Erfüllung,
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