Riskante Versuchung
Falls es Ihnen irgendeinen Trost bietet, sage ich Ihnen, dass dieser Punkt Rob eher entlastet. Serienmörder finden häufig sexuelle Befriedigung beim Akt des Tötens. Leider gibt es da keine zuverlässige Regel. Ich habe Fälle erlebt, in denen der Mörder ein vollkommen normales bürgerliches Leben mit Frau und Kindern geführt hat. Seine Familie hatte keine Ahnung, dass er in exakten periodischen Abständen mordete.“
Plötzlich erinnerte Jess sich daran, wie sie Rob in der Nacht des Stromausfalls gesehen hatte. In der Nacht, als sie zum ersten Mal miteinander geschlafen hatten. Er hatte im Schlafzimmer seiner Wohnung gestanden, das nur von einem Blitz erhellt wurde, das Messer in der Hand, das Gesicht von beinah unmenschlicher Wut verzerrt …
„Nein“, sagte sie.
Sie erinnerte sich daran, wie sie ihm in der Nacht ihrer Autopanne begegnet war. Er hatte ihr Handgelenk gepackt und sein Messer in der Hand gehabt. Mit einem wilden Ausdruck in den Augen hatte er sich ihr genähert …
„Nein“, wiederholte sie.
„Falls sich herausstellt, dass Rob tatsächlich der Sarasota-Killer ist, dürfen Sie nicht denken, das ginge alles auf Sie zurück“, erklärte Selma. „Haben Sie verstanden?“
„Rob ist nicht der Mörder“, wiederholte Jess noch einmal, klang jedoch schon nicht mehr ganz so überzeugt.
„Sie sind sehr stur.“ Selma seufzte. „Na schön, wollen Sie jetzt meine Theorie hören?“
„Nein.“ Jess biss die Zähne zusammen. „Doch, verdammt.“
Selma Haverstein lachte. „Ich mag Ihre Aufrichtigkeit. Versuchen Sie, mir erst einmal zuzuhören, ja?“
Jess nickte.
„Als Rob sechs war, starb seine Mutter. In gewisser Hinsicht verließ sie ihn. Sein Vater misshandelte ihn, wie Sie schon erwähnten. Wir können lediglich Mutmaßungen darüber anstellen, welche Qualen das Kind erdulden musste. Es wäre eine ganz natürliche Reaktion eines Kindes, mit Hass und Groll auf die Mutter aufzuwachsen, die es verlassen und einer Welt des Schmerzes und Leidens überlassen hat.
Gleichzeitig aber melden sich Schuldgefühle, denn ein sechsjähriges Kind, das seine Mutter verliert, hat auch deutliche Erinnerungen an die Liebe und Fürsorge der Mutter. Das Kind wächst heran, wird misshandelt, möglicherweise sogar sexuell missbraucht, leidet unter dem Gefühl von Wertlosigkeit und Selbstverachtung, außerdem einer großen Wut, einem enormen Zorn auf die Mutter, und obendrauf kommen die Schuldgefühle wegen seines Zorns, die wiederum seinen Selbsthass steigern.
Das Kind wächst zu einem Mann heran, und seine Selbstverachtung nimmt weiter zu. Er fühlt sich unzulänglich, besonders in seinen Beziehungen zu Frauen.
Und das bringt uns in die Zeit vor sechs Monaten„, fuhr Dr. Haverstein fort, “als Rob nach Sarasota gezogen ist und Sie kennengelernt hat. Sie sind für ihn wie seine Mutter. Natürlich liebt er Sie, aber noch mehr verachtet er Sie. Und noch etwas kommt hinzu - er begehrt Sie sexuell. Da Serienmörder sehr schlecht zwischen Realität und Fantasie zu unterscheiden vermögen, sieht er in Ihnen wahrscheinlich tatsächlich seine Mutter.“
„Ich kann nicht glauben, dass ich hier sitze und mir das anhöre“, flüsterte Jess. „Ich glaube es einfach nicht.“
„Jedes Mal, wenn er starke Gefühle entwickelt oder Lust für Sie empfindet, beginnt der Kreislauf aus Selbstverachtung und Wut, und er bringt Sie um.“
Schockiert sah Jess auf.
„Nicht Sie selbstverständlich, es kommt ihm nur so vor.“
„All diese Frauen, die getötet wurden“, sagte Jess mit vor Entsetzen geweiteten Augen. „Sie glauben, die standen stellvertretend für mich?“
„Ein bisschen komplizierter liegt der Fall schon, aber in gewisser Hinsicht haben Sie recht.“
Jess fühlte sich benommen. „Das ist bloß Ihre Theorie“, sagte sie schließlich. „Alles reine Vermutungen, oder?“
Selma nickte. „Nur ist es auch ein Muster, das wir schon früher gesehen haben.“
Jess schwieg.
„Sie müssen über all das nachdenken“, schloss Selma, verstaute ihre Akte wieder in ihrem Koffer und sammelte Kaffeebecher und Donuttüte ein. „Ich lasse Ihnen meine Karte hier. Sie können mich jederzeit anrufen, Tag oder Nacht, egal, aus welchem Grund.“ Selma stand auf. „Ich finde allein hinaus.“
Jess schaute der älteren Dame hinterher, die zur Tür ging.
„Nochmals danke für Ihre Mitarbeit, meine Liebe …“
„Glauben Sie wirklich, es ist Rob? Nicht jemand anders?“ Jess stand ebenfalls auf.
Selma drehte
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