Riskante Versuchung
sie hochhielt, damit Rob sie sah. „Ian hat mir seinen Wohnungsschlüssel gegeben.“
„Ich bezweifle, dass er ihn dir für ein solches Vorhaben gegeben hat. Er wollte ganz bestimmt nicht, dass ich mit dir zusammen seine Wohnung nach Beweisen durchsuche, die ihn auf den elektrischen Stuhl bringen“, sagte Rob und folgte ihr den Flur entlang zu ihrem Schlafzimmer. Sie nahm ihre Handtasche und setzte sich aufs Bett, um ihre Sandaletten anzuziehen. „Er hatte wohl etwas völlig anderes im Sinn.“
Jess wirkte absolut entschlossen. „Und wenn er der Killer ist?“
„Ruf die Polizei an“, schlug Rob vor, ging zum Nachttisch und nahm den Hörer vom Telefon. „Hier, ruf sie an und erklär ihnen, was du denkst. Lass sie Ian überprüfen. Das ist ihr Job. Dafür werden sie bezahlt.“
Störrisch verschränkte Jess die Arme vor der Brust. „Ich habe die Polizei schon angerufen. Die glauben mir nicht.“ Mit dem Kinn deutete sie auf den Telefonhörer, den Rob immer noch in der Hand hielt. „Ruf du sie doch an. Vielleicht glauben sie dir.“
Die Polizei anrufen? Auf keinen Fall. Das konnte er nicht. Es wäre zu riskant. Zu gefährlich. Robs Kontakte mit den Gesetzeshütern fanden stets nur aus der Distanz statt, und so würde es auch bleiben.
Leise fluchend legte er den Hörer auf.
Jess stand auf und ging zur Tür. „Ich bin bald wieder zurück.“
Rob fluchte erneut, diesmal lauter, und hielt sie am Arm fest, damit sie sich zu ihm umdrehte. „Was erwartest du dort zu finden?“
Sie erwiderte seinen Blick mit einer gewissen Wachsamkeit. Ansonsten verriet ihre Miene nichts. „Antworten“, erklärte sie. „Ich will Antworten.“
Irgendetwas ging hier vor. Warum glaubte Jess plötzlich, Ian sei ein Mörder? Sie wusste etwas. „Was ist los?“, fragte er rundheraus. „Hier geht es doch nicht nur um Ian, oder?“
„Bitte komm mit“, sagte sie leise. „Komm mit und hilf mir.“
Auf einmal sah sie besorgt und ängstlich aus. Doch wovor fürchtete sie sich?
„Selbstverständlich“, erwiderte er beinah automatisch. „Du weißt, dass ich dir helfen werde.“
Jess parkte ihren Wagen um die Ecke von Ians Eigentumswohnung, direkt vor dem Lebensmittelladen. Rob war schweigsam gewesen während der Fahrt, und er schwieg noch immer. Falls er Zweifel hatte, mit ihr in Ians Wohnung zu gehen, behielt er sie für sich. Und zum Glück hatte er auch nicht weiter darauf gedrängt, zu erfahren, warum ihr dieses Unternehmen so wichtig war. Denn was hätte sie ihm sagen können? Ich will beweisen, dass du kein Serienmörder bist ?
Sie gingen zu Ians Tür. Die Tür war zu, doch Jess konnte durch das kleine Fenster im oberen Teil in das Wohnzimmer sehen. Der einzige Hinweis auf Ian war eine halb aufgegessene und wahrscheinlich bereits versteinerte Pizza, die auf dem Couchtisch lag - außerdem eine halbe Tonne Müll, der überall im Wohnzimmer verstreut war.
Jess klingelte und wartete. Ein paar Türen weiter hörte man eine TV-Talkshow. Ein anderer in dem Gebäude spielte viel zu laut die Allman Brothers. Sie klingelte erneut, doch in der Wohnung blieb alles still.
Sie benutzte den Schlüssel an der Betty-Boop-Kette und schloss die Tür auf. Jess sah zu Rob, der die Straße im Auge behielt, als wolle er sichergehen, dass niemand sie beobachtete. Jess betrat Ians Wohnung.
Drinnen sah es aus wie in einem Schweinestall, und es roch auch so. Die Pizza auf dem Tisch schien definitiv aus einem anderen Leben zu stammen. Daneben stand ein voller Aschenbecher, und überall lagen leere Bierdosen herum.
Rob schloss die Tür von innen ab. „Ich hoffe, du weißt, wonach du suchst“, sagte er, das vermüllte Wohnzimmer begutachtend.
Das Problem war jedoch, dass Jess keine Ahnung hatte, wonach sie suchte. Sie wusste nur, dass sie es erkennen würde, sobald sie es sah.
Sie ging durch das Wohnzimmer in den hinteren Teil der Wohnung, wo sich die Küche befand.
Auch hier herrschte heilloses Durcheinander. Beim Betreten der Küche klebte gleich einer ihrer Schuhe am Boden fest. Dem Geruch nach zu urteilen, befand sich der Müll schon länger in dem überquellenden Mülleimer. Die Spüle war bis obenhin voll mit dreckigem Geschirr und Gläsern. Auf den Arbeitsflächen und dem kleinen Esstisch war jeder Zentimeter mit Krimskrams jeder Art bedeckt.
Nur blutige Messer lagen nirgendwo herum.
Andererseits, wie konnte sie sich da sicher sein? Wie sollte ihr in diesem Chaos ein blutiges Messer auffallen?
Unwillkürlich fragte sie sich,
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