Riskante Versuchung
unschuldig ist.“
„Ja“, bestätigte Jess und fügte im Stillen hinzu: zumindest zu 99,9 Prozent.
Selma entging dieser Hauch eines Zweifels nicht, doch sagte sie nichts dazu.
„Gehen wir nach oben und reden mit Parker“, schlug sie stattdessen vor. „Er hat neue Informationen, die er Ihnen mitteilen will.“
Jess wurde nervös. Sie wollte keine neuen Informationen, die Rob belasteten.
„Ich schlage Ihnen einen Deal vor“, bot Selma an. „Sie gehen jetzt hinauf und hören sich an, was Parker zu sagen hat. Und wenn Sie hinterher immer noch wollen, dass wir Ian Davis überprüfen, besorge ich persönlich einen Durchsuchungsbeschluss für sein Haus und eine Vorladung.“
Spontan streckte Jess die Hand aus. „Abgemacht.“
Er ertrank, erstickte und wusste, wenn er die Augen aufschlug, würde er blutbesudelt sein.
Von ihrem Blut.
Deshalb machte er die Augen nicht auf.
Doch ihr Schrei hallte in seinem Kopf wider, immer wieder und wieder und wieder, und das würde erst aufhören, wenn er die Augen aufschlug.
Blut.
Überall.
Es strömte aus ihr heraus.
Wie konnte sie noch am Leben sein, wenn so viel Blut auf dem Boden war?
Ihre Augen hefteten sich angsterfüllt auf ihn, voller Schmerz und Ungläubigkeit.
Er wandte sich ab, denn er konnte es nicht ertragen, sie sterben zu sehen.
Erneut schrie sie laut auf - diesmal seinen Namen. „Rob!“
Ihre Stimme war schneidend wie eine Messerklinge.
Aber das war nicht sein Name … Woher wusste sie … Erschrocken schlug er die Augen auf.
Jess lag hier, in Blut getränkt. Und sie war es, die ihn mit ihren wunderschönen dunklen Augen ansah, während das Leben aus ihnen wich.
Er schrie auf, befreite sich von dem Traum und kam in ihrem schwach beleuchteten Schlafzimmer zu sich.
„Jess!“, rief er und drehte sich um.
Doch er lag allein im Bett.
Und das Blut auf dem Laken stammte von ihm.
Oben im vierzehnten Stock, in dem vorübergehenden Büro der Behavioral Analysis Unit, der sogenannten „Verhaltensanalyseeinheit“ des FBIs, war es still. Das leere Büro war groß, mit sechs oder sieben Schreibtischen ausgestattet, auf denen jeweils zwei Computerterminals standen und doppelt so viele Telefone. Es gab außerdem mehrere lange Konferenztische, die mit Akten und Papieren übersät waren. Eine ganze Wand war mit Karten bedeckt, von denen die größte eine Straßenkarte der Innenstadt war. Die Tatorte waren mit roten Nadeln gekennzeichnet.
An der Wand hingen auch Schwarz-Weiß-Fotos der Opfer, aus verschiedenen Winkeln aufgenommen. Jess musste schlucken und achtete darauf, nicht mehr hinzusehen.
Ian hatte Schlitzerfilme geliebt, deren Gewaltdarstellungen Jess hingegen krank machten. In gewisser Hinsicht zeigten diese Fotos weniger als die Filme. Die Frauen auf den Fotos lagen nicht in Lachen aus künstlichem Blut. Aber die Frauen auf den Fotos konnten nicht aufstehen und duschen gehen, sich alles abwaschen, wenn der Regisseur „Cut“ rief.
Diese Frauen auf den Bildern waren wirklich tot. Und Selma Haverstein und Parker Elliot glaubten, Rob habe sie getötet …
„Wo sind alle hin?“, fragte Jess erstaunt.
„Sie sind alle in Robs Wohnung“, antwortete Selma heiter. „Oder irgendwo unterwegs. Oder unten im Labor. Das befindet sich im dreizehnten Stock. Soll Glück bringen, wissen Sie?“
Eine Bewegung auf der anderen Seite des Raumes weckte Jess‘ Aufmerksamkeit, und sie entdeckte Parker Elliot im Türrahmen eines Einzelbüros. Er hatte ein Telefon zwischen Kinn und Schulter geklemmt, winkte sie beide aber trotzdem herein.
Als Jess sich auf einen der harten Plastikstühle vor seinem Schreibtisch setzte, legte er auf. „Wie hat Carpenter seine Miete bezahlt?“, wollte er ohne Umschweife wissen, auf eine erneute Begrüßung verzichtend.
„Bar“, antwortete Jess und sah zu Selma.
„Keine Schecks, Kreditkarten, Belege? Das passt.“
„Warum?“ Jess beobachtete, wie der FBI-Agent sich setzte, den Winkel des Computerbildschirms verstellte und das Modem justierte.
„Es wird gerade bestätigt …“, sagte Elliot abgelenkt und tippte etwas auf der Tastatur, ehe er erst Jess und dann Selma Haverstein ansah. „Ich kann es nicht fassen, dass das Team Carpenters Identität nicht schon früher überprüft hat. Ich dachte, das wäre längst geschehen. Offenbar dachte das jeder.“
Der Computer piepte, und Elliot richtete den Blick wieder auf den Bildschirm. Mit konzentrierter Miene las er eine Weile. Dann schüttelte er den Kopf und lachte
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