Riskante Versuchung
schön. Wenn sie zurückkommt, bringen Sie sie hierher. Und lassen Sie sich bloß nicht abwimmeln. Danke.“
Zu Selma gewandt, meinte er: „Sie hat ihr Haus vor über zwei Stunden verlassen, um ihr Kind bei der Tagesmutter abzuholen. Tja, warum glaube ich das nicht?“
„Vielleicht solltest du es mal mit der anderen Nummer versuchen“, schlug Selma vor. „Für den Fall, dass sie dort ist.“
Ganz still und erwartungsvoll saß er da und ging es in Gedanken immer wieder durch.
Er konnte den Blutstrahl spüren, das Zischen ihrer Luftröhre hören …
Er konnte sich die Angst und den Schmerz in ihren dunklen Augen ausmalen.
Ja, Sir.
Das Warten machte ihm nichts aus.
Dies würde wirklich sehr gut werden.
Jess wusste nicht, ob die Scheibenwischer schlecht funktionierten oder sie wegen der anhaltenden Tränen alles verschwommen sah.
Um zehn nach zehn bog sie in Doris‘ Auffahrt, wischte sich das Gesicht mit einem Taschentuch trocken und schnäuzte sich geräuschvoll die Nase. Dann atmete sie tief durch. Es widerstrebte ihr, sich dem hellen Licht und Doris‘ fragenden Blicken auszusetzen.
Na los, bring es hinter dich, dachte sie. Und dann fahr nach Hause.
Rob stieg aus der Dusche und betrachtete sich im Badezimmerspiegel. Zum ersten Mal seit über acht Jahren gestattete er sich, in Connor Garrisons blaue Augen zu sehen. Wirklich hineinzusehen.
Etwas war anders. Connors dreiste, draufgängerische Haltung war verschwunden. Stattdessen lagen nun Wachsamkeit, Zurückhaltung und Überlebenswille in seinem Blick. Achteinhalb Jahre auf der Flucht gingen nicht spurlos an einem vorüber.
Achteinhalb Jahre …
Nur in einem dieser Jahre war er Rob Carpenter gewesen, und doch trauerte er um den Verlust dieser Identität mehr, als es bei den anderen der Fall gewesen war. Er hatte Namen und Job insgesamt sechsmal gewechselt, und kein einziges Mal hatte er das Gefühl gehabt, etwas zurückzulassen. So schlecht hatte er sich nicht einmal gefühlt, als er sein Leben als Connor Garrison aufgab.
Möglicherweise lag es daran, dass er damals nichts Besonderes zu verlieren hatte. Seine Wohnung war ein Rattenloch gewesen, trotz der horrenden Miete, die er jeden Monat zu zahlen hatte. Er hatte keine Familie - sein Vater zählte nicht -, und seine Nachbarn hätten nicht gezögert, ihn für das von der Mafia ausgesetzte Kopfgeld auszuliefern, mit dem seine Ergreifung belohnt würde - tot oder lebendig.
Was hatte er damals schon aufgegeben?
Den albernen Traum, ein großartiger Schriftsteller zu werden. Was soll‘s.
Seine Freiheit.
Die Freiheit, ein Leben zu führen, ohne ständig über die Schulter zu schauen und Angst haben zu müssen, dass irgendwer ihn erkannte und an das Kopfgeld zu gelangen versuchte.
Seine Unschuld. Er schloss die Augen, denn er sah Janey vor sich, in einer Blutlache liegend, Furcht und Ungläubigkeit in ihren Augen, während sie in seinen Armen verblutete.
Er schüttelte den Kopf, um die Bilder zu vertreiben.
Das war der Grund, weshalb Rob Carpenter verschwinden musste. Deshalb musste er Jess aufgeben, auch wenn er es kaum ertragen konnte. Denn er würde niemals zulassen, dass auch sie auf diese Weise starb. Niemals.
Sicher, vielleicht würden sie und Kelsey mit ihm gehen können. Er würde dafür sorgen, dass sie in Sicherheit wären. Aber ein Leben auf der Flucht war kein richtiges Leben. Das wusste er nur zu gut.
Das Telefon klingelte plötzlich schrill und übertönte das Trommeln des Regens und das Tosen des Windes.
Während er sich die nassen Haare mit einem Handtuch trocken rieb, humpelte er in die Küche und starrte das Telefon an.
Eigentlich sollte niemand im Haus sein.
Jess‘ Eltern waren irgendwo im Westen unterwegs, zu Besuch bei Verwandten oder so etwas.
Wer sollte also hier anrufen?
Jess?
Sein Herzschlag beschleunigte sich.
Doch er wagte es nicht, den Hörer abzunehmen.
Nach dem vierten Klingeln sprang der Anrufbeantworter an, und Jess‘ Stimme vom Band meldete sich mit dem Ansagetext: „Hallo! Wir sind nicht da, aber hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem Piepton!“
„Hier spricht Parker Elliot“, sagte ein Mann. Draußen zuckte ein Blitz, und Donner krachte. Rob trat näher ans Telefon, um besser hören zu können. „Bitte rufen Sie mich an. Wir müssen unbedingt miteinander reden.“ Es folgte ein Moment der Stille, als höre Elliot jemand anderem zu, der gerade mit ihm sprach. „Ja, äh, Selma war der Meinung, ich solle Ihnen diese Nachricht hinterlassen …
Weitere Kostenlose Bücher