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Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Titel: Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lars Gustafsson
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von Schwedens Grenzen wurden die Landgebiete langsam ausgeräumt und von einer unsichtbaren Besatzungsmacht, die sie in ihrer Gewalt hatte, in weiße, blaue und rote Zonen aufgeteilt.
    Die Risse weiteten sich, immer größer wurde der Abstand zwischen Sprache und Wirklichkeit: da war eine Lügenmaschinerie am Werke, und die Lüge breitete sich aus wie eine Infektion und drang in alle Ecken und Ritzen ein.
    Mächtig tobten die Oktoberstürme in jenem Jahr; 1969. Der Wald wurde abgemäht wie Gras, die Telefondrähte ringelten sich um gebrochene Masten, es klapperte und heulte in rissigen Bauwerken.
    Jetzt kamen Wahrheiten zutage. Das elende Spekulationsgeschäft mit dem Wohnungsbau in den fünfziger und sechziger Jahren, wo die Decken mit Büroklammern befestigt und die Wände mit Tesafilm aneinandergeklebt wurden, zeigte sein wahres Gesicht. Da brachen die Wände heraus! Da flogen die Dächer davon!
    Die Experten sprachen von einem neu entdeckten Gesetz: dem Vacuumeffekt.
    Der Vacuumeffekt galt nicht für die 103 Meter hohe Turmspitze Nicodemus Tessins des Jüngeren in Västerås, die jahrhundertelang allen Blitzen des Himmels getrotzt hatte, er galt nicht für die Peterskirche in Rom, er galt nur für die Spekulationsbauwerke der fünfziger und sechziger Jahre.
    So überlistete die Witterung zu guter Letzt die Grammatik.
    Und als 1969 um die Weihnachtszeit die Bergarbeiter in den Erzgebieten im Norden aus ihren Gruben herauskamen und erklärten, sie hätten genug, da geschah etwas Bemerkenswertes: ihre Syntax war einfach, rein, verständlich, und die Funktionäre, die Bergwerksdirektoren, die Minister konnten sich nicht mehr verständlich machen, da ihre Sprache im Vergleich zu dieser verworren, dunkel, vieldeutig, schamlos verschlüsselt war.
    Da wurde auch eine Wahrheit offenbar.
    Und jene Augen! Jene mütterlichen und durchdringenden Augen, die mich ein paar Minuten lang auf meiner Reise so ruhig und forschend betrachtet hatten.
    Sie hatten mich etwas gefragt. Und ich wußte, was.
     
    Wie groß war mein eigener Anteil an der Lüge? Wie tief war die Ansteckung, war das Virus in mich selbst eingedrungen?
    Welchen parallellaufenden Prozessen bei mir selbst entsprach dies alles? War ich ein Lebender oder ein Toter? War ich ein kleines Pelztier, das den Frost im tiefsten Winter verschläft und sich im Schlaf regt? Oder war das alles schon nicht mehr möglich? War der kleine kalte Punkt da drinnen schon gewachsen, hatte er schon so viele von den feinen Schichten der Seele erobert, daß es kein Zurück mehr gab?
     
    Hungrig. Ruhelos. Wie ein Holzwurm Bücher und Manuskripte durchfressend. Unterwegs in den mit weichen Teppichen belegten Gängen des mütterlichen, höhlengleichen Bonnierschen Verlagshauses. Verfasser einer Reihe von Büchern, die einander nach und nach wiederaufnahmen, bis nichts mehr übrigblieb. Warm und kalt zugleich, unfähig zu festen zwischenmenschlichen Beziehungen und zugleich furchtbar treu und blind ergeben demjenigen, der mich ein einziges Mal gesehen hatte.
    Jetzt war ich gesehen worden; aus der tiefsten Gleichgültigkeit, aus der totalen Nichtigkeit, die für mich das natürliche und selbstverständliche Ende des Dezenniums bedeuteten, war ich zu verzweifelter Aufmerksamkeit erwacht, als mich schließlich jemand angesehen hatte.
    Daran klammerte ich mich, wie ein Ertrinkender sich an den dünnsten schwächsten Weidenzweig des Ufers klammert.
    In dem Haus an der Fregestraße tickten die Uhren. E. sah nachdenklich zu, wie ich ein Butterbrot nach dem anderen aß und wie der Inhalt des Marmeladentopfes merkbar zusammenschrumpfte. In der rechten Hand balancierte er versonnen ein scharfgeschliffenes, breites halbmeterlanges Messer, eine Zuckerrohrmachete aus Kuba.
    Äußerlich war mir nichts anzusehen. Mit ihren seltsamen, klugen und liebevollen Augen hatte die fremde Dame mich aus der Tiefe der Gleichgültigkeit geweckt. Zwei Stunden lang hatte ich mich vollkommen ruhig gefühlt.
    Jetzt kam der Schmerz, der der Preis des Wachseins ist.
    E. fragte:
    – Und was tust du eigentlich in Stockholm?
    Ich sah von meiner Teetasse auf, ein Privatmann, nicht besonders erfolgreich, am Ende der sechziger Jahre, und antwortete:
    – Ich erlebe meine Zeit, ich zerhacke meine Zeit in kleine Stücke, ich laufe hungernd von einem Teil meines Lebens zum anderen. Ich sehe in ziemlich deutlichen Umrissen, was geschieht, was geschehen wird und muß, aber ich überschaue es nicht.
    Ich schreibe Essays, ich rezensiere

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