Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
sterben würde, wenn man mich vierundzwanzig Stunden lang ohne Essen lassen würde. Ich bin friedlich, wie alle größeren Säugetiere, solange man mich nicht angreift, aber ich weiß mit Bestimmtheit, daß ich für Nahrung würde töten können.
Jetzt hatte ich seit sechs Stunden nichts gegessen. Es mußte eine Veränderung geschehen sein, ich muß sozusagen in einem anderen geistigen Klima geweilt haben, einem bedächtigeren, einem glücklicheren als meinem gewohnten, mit einer tieferen Atmung, einer ruhigeren Wärme.
Jetzt wurde ich wieder in mein eigenes Dasein zurückgerissen, und der Hunger machte sich über mich her.
Ich erinnere mich an diesen Hunger seit meinem dritten Lebensjahr.
Auch die sechziger Jahre hatte ich hungernd verbracht.
Ich erinnere mich an die seelenlose Prosa, in der wir am Anfang des Dezenniums miteinander redeten, in Uppsalas schrecklichen Cafés mit ihrem seltsamen Duft von verfaulendem Holz. Wir hausten in der angelsächsischen Erkenntnistheorie, wie man in einem heruntergekommenen Hotel haust, ohne Enthusiasmus, aber froh, überhaupt eine Wohnstatt zu haben. Seitdem habe ich auch in den Philosophien des Kontinents gewohnt, habe an anderen Töpfen geschnuppert. Ich fühle mich fast ebenso heimisch bei Hegel und Marx, bei dem stolzen Bakunin wie bei dem kleinen eigensinnigen, schiefäugigen Sartre und dem klugen Lukács... Er sei gesegnet! In seiner dunklen Wohnung, hinter schweren Gardinen, in der V. Beograd in Budapest sah er mich lange mit seinen großen, braunen Rehaugen an und sagte:
– Junger Mann, Sie müssen Geduld haben. Wir können uns nicht aussuchen, in welcher Geschichtsperiode wir leben wollen.
Ich sah den Sturm langsam kommen. Er machte mir nicht angst, sondern er machte mich frei. Er entsprach einem Sturm in mir selbst.
Aber ich handelte nicht.
Ich sah Ideen kommen und sah sie sich blamieren.
Ich selbst blamierte mich nicht.
Ich sah die Einsicht kommen und sah sie zu Sentimentalität verfaulen, zu schalen und glücklichen Schuldgefühlen.
Ich selbst blieb verschlossen.
Wie fing es an? Wenn ich mich nur erinnern könnte!
Treuloses Gedächtnis! Wenn ich dich darum bitte, dich zu erinnern, dann erinnerst du dich statt dessen an etwas anderes! Wenn ich versuche, mich an meine Ungeduld zu erinnern, dann erinnere ich mich plötzlich nur an Ruhe. Wenn ich versuche, mich an mich selbst zu erinnern, dann erinnere ich mich nur an die Welt, die mich umgibt.
Immer größer wurde die Macht der öffentlichen Lüge. Es begann mit kleinen Rissen, Unstimmigkeiten, einem mikroskopischen Abstand zwischen der Welt, von der man redete, und der Welt, die tatsächlich da war.
Der Morgenzug sollte laut Fahrplan um 9:40 in Stockholm ankommen, aber er kam niemals früher als 9:50. Eine Kleinigkeit, könnte man meinen, aber sie war da. Die Züge wollten nicht mehr so recht mit dem Fahrplan übereinstimmen, weil man so tun wollte, als gingen die Züge schneller, als es tatsächlich der Fall war.
Die Alltagsprosa hatte seit langem ihre Rolle als Sprache des Realismus, als Sprache der Wissenden, der Eingeweihten ausgespielt. Jene, die wirklich Bescheid wußten, jene, die an Macht und Einfluß teilhatten, sprachen die Verwaltungssprache mit ihren geheimnisvollen Abstraktionen und Abkürzungen, eine Sprache, die Schwarz zu Weiß machen konnte und an der nur jemand, der Mitglied war, jemand, der über die streng bewachten Schlüssel verfügte, ablesen konnte, daß Nein war, was alle als Ja auffaßten, und daß das, was alle Unwissenden und Außenstehenden als Nein auffaßten, ein heimliches Ja war.
So waren die großen Universitätsreformen der sechziger Jahre durchgesetzt worden, unter dem Motto: Erkenntnis für alle; tatsächlich aber bedeuteten sie eine Einschränkung des Wissens, das zugleich der Schlüssel zur Freiheit, zur Einsicht, zu einer besseren, weniger unpersönlichen Zukunft war.
So waren die gewaltigen Kompromisse im Inneren des Staatsgefüges eingebaut und vor der Außenwelt verborgen worden: unter dem Deckmantel des Pluralismus, des Wirtschaftslebens, der Gewerkschaftsbewegung, der Interessengruppen verbarg sich eine einzige, gewaltige, zentralistische Macht. Regionalpläne wurden ausgebreitet, staatliche Zentren abgerissen, die Landgemeinden wurden entvölkert, bis ihr allmählicher Verfall mit rostenden Maschinen auf den Ackern, mit einstürzenden Dächern und windschiefen Gebäuden schließlich zum Inbegriff der ländlichen Siedlung überhaupt wurde. Innerhalb
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