Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
Melkschemeln und verfallenden Gemeindehäusern, da lag das Land, schweigend, und weder Segenssprüche noch Verwünschungen würden seine Stille stören können.
Auf dem Grund der gefrorenen Seen schliefen die Schwalben ihrer Zeit entgegen, tief unter dem Schnee der Wiesen, die Linné einmal pratis vestmanniae genannt hatte, schliefen dicht zusammengedrängt die Feldmäuse, und die Wärme, die diese blinden, haarigen kleinen Tiere vereinte, würde niemand stören können.
Der Engel, der Swedenborg besucht hatte, war noch nicht fort. In einem Wald von Jahren versteckt, harrte der Gewaltige auf seine Zeit. Und irgendwo, in einer anderen Zeit, bei Dahingegangenen oder Ungeborenen, flatterten noch tausend bunte Schmetterlinge über Västmanlands frühlingsgrüne Wiesen.
Es muß an diesem Tag, in diesem Augenblick gewesen sein, daß mir zum ersten Mal bewußt wurde, wie weit mich meine Resignation schon geführt, wie tief die Verzweiflung in mir Fuß gefaßt hatte. Ich wußte nicht, wie lange schon. Seit den späten sechziger Jahren? Oder seit ihrem Beginn? Wo sollte ich suchen? Was würde ich finden?
Ich wußte noch nicht, daß der Augenblick, in dem wir die Tiefe unserer Verzweiflung erkennen, ein hoffnungsvoller Augenblick ist. Plötzlich die eigene Trauer in ihrem ganzen entsetzlichen Ausmaß zu sehen heißt, am Schluß angelangt zu sein.
Die Phase, die die Psychologen Trauerarbeit nennen, beginnt.
Durch den Schneematsch pflügte sich das Taxi auf Marieberg und auf die gewaltigen Komplexe der Bewußtseinsindustrie zu. Der Chauffeur, ein magerer Student, der den derben Ledermantel nicht recht ausfüllte, betrachtete mich im Rückspiegel durch seine dünne Goldrandbrille. Er wollte mich von irgend etwas überzeugen und gebrauchte viele abstrakte Wendungen. Nachdem ich lange zerstreut mit »Ja« und »Nein« geantwortet hatte, wurde mir plötzlich klar, daß der junge Mann von Leo Trotzki und der Idee der permanenten Revolution redete. Es war ein noch sehr junger, ein unerfahrener Mann.
Ich hörte kaum zu. Meine Trauerarbeit hatte begonnen.
Das Mädchen mochte etwa einundzwanzig oder zweiundzwanzig Jahre alt sein. Sie trug zu dem kurzen grünen Rock hübsche goldene Strümpfe, ihre Augenlider waren bläulich getönt, ihr langes dunkelbraunes Haar fiel ihr bis auf die Schultern. Auf ihrem Schreibtisch stand eine halbleere Teetasse, und ein halbfertiges Farbdruckschema für eine kommende Sonntagsnummer bedeckte die Tischfläche. Auf dem großen Papierbogen bildeten Zeichen vieler verschiedenfarbiger Stifte ein Muster, das ebenso kompliziert war wie eine Bahnnetzkarte. In Quadraten und Rechtecken waren säuberlich die Namen von Berühmtheiten verzeichnet. Kriminelle Profiboxer, Teenageridole, Playboyadvokaten würden diese Seiten füllen: ihr steriler Aufmarsch sollte anderen helfen, die Leere zu füllen, die das Leben hinterlassen hatte.
Der Feuilletonredakteur war in London, um ins Kino zu gehen. Björn Nilsson war in die Kantine gegangen, um mit Olof Lagercrantz seinen Nachmittagskaffee zu trinken. Aus dem abgelegenen Zimmer des geistreichen und freundlichen Musikkritikers drangen die Klänge der Solobratsche aus Berlioz’ »Harold in Italien«.
Das Mädchen telefonierte mit entlegenen Teilen des Unternehmens.
– Sie haben Schwierigkeiten, Barsche zu bekommen. Es ist nicht die richtige Saison.
– Bitten Sie sie, es mit Plötzen zu versuchen!
– Das können wir nicht. Es müssen Barsche sein. Sie haben doch ein Rezept für Barsche geschrieben. Ordnung muß sein.
Wir warteten. Ein Funkwagen war offenbar unterwegs zwischen Fischgroßhändlern und Eislagern von Haga bis Skanstull, auf der Jagd nach meinen Barschen. Der Fotograf ließ sich nicht blicken.
Mitte der sechziger Jahre waren fast alle Zwischenwände im Inneren des Zeitungshauses abgerissen worden.
Hier und da war eine Schreibmaschine zu hören. Die meisten Mitarbeiter waren ausgegangen. Fremde Hände schrieben in einer fremden Sprache. Die Weltgeschehnisse wurden isoliert und zu »Nachrichten« zerhackt, Nebensächlichleiten wurden mit großen Feldschlachten gleichgesetzt. Hier herrschte eine Grammatik, die Kontinuität, Erinnerung, Bekanntschaft unter den Menschen leugnete, um sie statt dessen in illusorischer Gemeinschaft um gleichgültige Ereignisse, Gegenstände und Personen zu versammeln. Hier wurde eine neue Art von Welt geschaffen, eine, die es niemals gegeben hat und die doch existierte, weil sie die einzige war, die Millionen von
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