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Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Titel: Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lars Gustafsson
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mich erstaunt an und sagte:
    – Aber das brauchen sie doch!
    Eines Morgens rief mein stellvertretender Redakteur an und teilte mir sehr sanft, sehr ruhig mit, daß er es jetzt wohl nicht mehr schaffen würde.
    Schlaftrunken fragte ich ihn, wer zum Teufel seiner Meinung nach um sieben Uhr früh irgend etwas schaffen könnte. Er erklärte mir, daß er es wohl nicht mehr schaffen würde, mein stellvertretender Redakteur zu sein.
    In den letzten drei Jahren hatte dieser nervöse und hellhörige Mann ein Doppelleben geführt: tagsüber mein Assistent, nachts Theaterkritiker. Er war eines dieser Wesen, die man manchmal in Schlafwagen oder in den Wartesälen der großen Flugplätze oder auf dem Gang irgendeines Hotels trifft und die den Eindruck erwecken, als würden sie niemals anderswo leben als auf Flugplätzen, in Schlafwagen, in Hotelgängen. Die Abende verbrachte er im Zuschauerraum, die Nächte im Schlafwagen; in langen, ruhigen, bedächtigen Satzgefügen flossen seine großen, hochgeschätzten Theaterkritiken dahin.
    Unsere Bekanntschaft reichte zurück bis in die fünfziger Jahre, in die Seminare von Uppsala, wir hatten ein Jahrzehnt lang kein einziges unfreundliches Wort gewechselt, wir hatten Hand in Hand gearbeitet, seine Kontakte zur Umwelt waren sanft und bedächtig.
    Und jetzt schaffte er es nicht mehr.
    Ich nahm das als ein Zeichen, als eine Warnung. Die großen magnetischen Felder um mich her waren in einer Veränderung begriffen, neue, unüberschaubare Zusammenhänge waren am Entstehen.
    Die Zeitschrift würde mich monatelang ganz in Anspruch nehmen, mich in ihrer unkontrollierbaren Papierflut ertränken, bis ich einen Stellvertreter gefunden hätte. Es würde viel Zeit vergehen, aus dem Zusammenhang gerissene Eindrücke und Stunden würden mich jagen.
    Drei Wochen waren vergangen seit jener Reise, die den Ausgangspunkt bildete. Sie ruhte in mir. Sie verhielt sich still. Spät in der Nacht, wenn alle zur Ruhe gegangen waren, spielte meine Stereoanlage in dem großen Arbeitszimmer den düsteren, trotzigen Marsch aus Hector Berlioz’ »Symphonie Phantastique«.
    Seine dunklen Töne waren das Zeichen. Sonst war alles still. Meine Aufzeichnungen zu Racines Tragödien beschäftigten mich zur Nachtzeit am Kachelofen. Das langgezogene »Speravimus« aus einem Chorsatz in Berlioz’ »Te Deum« beschäftigte meine Phantasie: worauf sollten wir hoffen? Was hatten wir zu erhoffen?
    Privatbriefe gab es selten in dem mit Grünspan überzogenen Messingkasten unten am Zaun.
    In den Zeitungen empörten sich pflichtschuldigst die konservativen Dozenten, die jetzt, am Ende der sechziger Jahre, über Nacht zu kritischen Staatsbürgerdiensten einberufen worden waren, über meine gerade in Buchform erschienenen Zeitungsplaudereien. Ich fand das natürlich und konsequent.
    Nicht einmal E’.s charakteristische Schriftzüge tauchten auf einem der Umschläge im Briefkasten auf. Manchmal, spät am Abend, Jan Myrdals tiefe, starke Stimme aus Mariefred am Telefon: zu dieser Stunde des Abends sprachen wir über den Gang der Welt.
    Die Papierstöße wuchsen. Die Tage in Stockholm wurden immer zahlreicher. Bizarre Tage.
    Der Kanzler aller Universitäten des Landes berief die Mitglieder sämtlicher Fakultätsausschüsse zu einer Konferenz im Hotel Foresta ein, die Zeitung Expressen feierte mit fürstlichem Pomp ihr fünfundzwanzigjähriges Jubiläum. Ola Billgren stellte in der Galerie Belle in Västerås aus. Eigentümlich kontrastierte auf seinen Bildern roter Feuerschein gegen weißes Tageslicht.
    Am Ende des Jubiläumsdiners, während in einer Ecke von Berns Salons noch getanzt wurde, konstatierte die Gesprächsrunde bei einem müden Kognak mit gedämpften Seufzern ein letztes Faktum: 1969 war das Jahr, in dem die Büstenhalter endgültig von den Busen der Mädchen verschwanden.
     
    Am Morgen nach dem großen Jubiläumsfest kam ich mit einem schweren Kopf, noch halb im Schlaf, im Foresta an, um an dem Gespräch der vereinigten Fakultätsausschüsse mit dem Kanzler teilzunehmen. Wortkarg begrüßte ich meine Kollegen vom humanistischen Fakultätsausschuß, lange schmale, kleine rundliche, jungenhaft bewegliche Professoren; ich kannte sie noch aus den dunstgeschwängerten Studentenkantinen und Seminarräumen meiner ersten Jugend, die nun schon vor langer Zeit von Baggerschaufeln in Uppsalas geschändetem und mißhandeltem Zentrum in Schutt verwandelt worden waren. Das große Konferenzzimmer war bis zum letzten Platz besetzt. Per

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