Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
die Verflechtung von Großkapital und Staat sahen, ließ uns ziemlich kalt. Eine Zeitlang waren sie die einzigen, die über uns schrieben, und das förderte nur unser Prestige.
Als aber der sozialdemokratische Dalademokraten und das Gewerkschaftsorgan Metallarbetaren uns innerhalb ein und derselben Woche in je einem dreispaltigen Leitartikel in Frage stellten, war es auch dem Gutgläubigsten klar, daß hier irgendwas faul war.
Unsere Tage seien gezählt, wenn es uns nicht gelänge, unsere Aufgaben genauer zu definieren, sie fest in der sozialdemokratischen Bewegung zu verankern und solide Mittel zu ihrer Durchführung zu beschaffen, sagte Svanhede ziemlich unverblümt in seiner Eröffnungsrede.
Es war vorgesehen, mit einem Plenum zu beginnen, nach dem Mittagessen dann einzelne Arbeitsgruppen zu bilden, die über verschiedene Spezialgebiete diskutieren sollten, und sich am Nachmittag des zweiten Tages zu einem neuen Plenum zu treffen.
Da Svanhede zu spät gekommen war und wir übrigen den Morgen damit verbracht hatten, diese Leute im anderen Konferenzsaal zu entlarven, die sich als ein rechter Haufen von Spinnern und Fanatikern entpuppten, geriet das Plenum etwas kurz.
Es wurde sehr still, als Svanhede geendet hatte. Dr. phil. Istvan Kortz, in Wien promoviert, als Jude vor den Nazis geflohen, nach Gastprofessuren in Harvard und Wales emeritiert, bei der Gründung des Ministeriums eine unsrer großen Entdeckungen für das Expertengremium, meldete sich zu Wort.
Mit einem starken ungarischen Akzent wies er darauf hin, daß wir der Krisenstrategie mehr Aufmerksamkeit widmen müßten. Die Modellversuche, mit denen wir in den ersten drei Jahren gearbeitet hätten, seien trotz seiner Proteste ausgesprochen statisch-optimistisch geprägt gewesen.
Die Art, wie wir mit Wachstumsprognosen umgingen, habe, notdürftig bemäntelt durch verschiedene statistische Vorbehalte und vorsichtige Einschränkungen, lediglich darin bestanden, bereits sichtbare Tendenzen ins Unendliche zu verlängern.
– Eine Futurologie, die sich ausschließlich mit der Extrapolation von Trends beschäftigt, kann niemals das Maß an Realität erreichen, das es erst ermöglichen würde, sie zur Grundlage politischen Handelns zu machen, sagte er.
In der ersten Zeit waren wir ungeheuer beeindruckt von ihm. Er schien mit all den wissenschaftlichen Kapazitäten befreundet gewesen zu sein, deren Arbeiten wir nur aus Zusammenfassungen in Forschungsberichten kannten. Nach und nach war der Enthusiasmus abgeflaut, da er offenbar nicht imstande war, irgendwelche konkreten Vorschläge zu formulieren.
Er schien das Ministerium als eine Institution zu betrachten, deren Aufgabe es sei, ihn mit Forschungsmitteln für überaus abstrakte Aufsätze zu versorgen, in denen es von stochastischen und spieltheoretischen Gleichungen nur so wimmelte und die pflichtschuldigst jedes Vierteljahr in unserem Bulletin »Mitteilungen aus dem Ministerium für Raumordnung« abgedruckt wurden.
– Nehmen wir beispielsweise an, daß einer meiner Freunde in der zweiten Juniwoche doppelt soviel Schnaps trinkt wie in der ersten Woche desselben Monats. Ich gehe der Sache nach und stelle fest, daß der Verbrauch in der ersten Woche wiederum das Doppelte von dem beträgt, was er in der letzten Maiwoche konsumiert hat.
Welche Schlüsse kann ich daraus ziehen? Wenn ich ganz einfach davon ausginge, daß dieser Trend sich fortsetzt, müßte ich ja folgern, daß er vor Weihnachten ganze Wagenladungen von Whisky trinken wird. Aber das ist ja Unsinn, das bringt kein Mensch fertig, das würde jeden umbringen.
Dieses Beispiel zeigt, daß Trends sich nicht einfach uneingeschränkt verallgemeinern lassen. Gewisse Trends enthalten in sich schon den Beweis dafür, daß sie aufhören werden.
Ich glaube kaum, daß es irgend jemand gab, jedenfalls nicht in meiner Abteilung im Ministerium, der dieses Beispiel nicht schon irgendwann einmal gehört hatte. Wir waren tief beeindruckt, als wir es zum erstenmal hörten. Irgend jemand räusperte sich, in der Hoffnung, er werde es merken und sich bei seinem Vortrag diesmal einigermaßen kurz fassen, aber die meisten hatten schon resigniert.
Außerdem war ja der eine oder andere darunter, der ihn noch nicht so oft erlebt hatte.
Dr. Kortz gehörte nicht zu den Leuten, die sich von einem Räuspern stören lassen. Seine großen Augen hinter den stark gewölbten Brillengläsern blickten ernst in die Runde der Ministerialräte. Er trank in aller Ruhe ein Glas
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