Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
Mineralwasser aus und fuhr fort:
– Ein mit der Planung betrautes Organ muß vor allem für den Krisenfall vorsorgen. Eine Futurologie, die nicht begreift, daß die Krise ein wesentlicher Bestandteil jeder gesellschaftlichen Entwicklung ist, ja, daß die Entwicklung in jeder historischen Phase tatsächlich durch Krisen vorangetrieben wird, sogar geradezu aus Krisen besteht, wird notwendigerweise von den Ereignissen nicht nur überrascht, sondern auch überholt werden.
Es gelang ihm tatsächlich, eine Diskussion in Gang zu bringen. Seine Idee, daß das Ministerium im Grunde weniger für die Raumordnung als vielmehr für die Verhütung von Krisen zuständig sei, ja, daß die Aufgabe eines solchen Ministeriums darin bestehe, Krisen vorauszusehen und Strategien zu entwickeln, um sie in den Griff zu bekommen, weckte bei einigen Teilnehmern ein plötzliches Interesse.
Es kam sogar dazu, daß Svanhede Dr. Kortz um eine Definition des Begriffs »Krise« bat.
– Eine Krise liegt vor, wenn die Institutionen eines Staates vor Aufgaben gestellt werden, für deren Bewältigung ihnen die adäquaten Mittel fehlen, antwortete Kortz wie aus der Pistole geschossen.
– Was heißt »adäquate Mittel«, sagte der Vorsitzende.
– Das können Machtmittel sein, wie etwa bei einer Revolution, es können aber auch moralische Mittel sein, wie bei den Umweltproblemen, antwortete Kortz mit derselben Entschiedenheit. Wir alle nehmen die Umweltverschmutzung wahr, aber es gibt keine Moralbegriffe, aus denen wir schließen könnten, wie wir darauf reagieren sollen. Wenn jemand einen – sagen wir, einen Singschwan – mit einem Stein erschlägt, dann wissen wir alle, wie wir darauf zu reagieren haben. Wenn aber alle Singschwäne durch ein neues Birkenvernichtungsmittel getötet werden, ja, dann fehlt es einfach an einer moralischen Strategie, um dieses Problem zu bewältigen. Eine Institution, die Krisen verhüten soll, muß auch bereit sein, »moralische Strategien« zu liefern.
Svanhede sah niedergeschlagen aus, wie er da saß und den Vorsitz führte. »Eine Institution zur Krisenverhütung« hörte sich gut an. »Krisenstrategien« auch. Aber »moralische Strategien liefern« war bestimmt nicht gut. Das war wieder einer von diesen komischen Begriffen, mit denen man die Gewerkschaftspresse verärgern konnte.
Das mit den Krisenstrategien war dagegen zweifellos ein Glückstreffer: »Dem schwedischen Staat fehlt es an Krisenstrategien.« Einer nach dem anderen spielte diesen Gedanken durch.
Dann kam das Mittagessen schneller als erwartet, weil wir so spät angefangen hatten. Svanhede blieb gerade noch Zeit, ein bißchen von der Suppe zu kosten, denn inzwischen hagelte es Telefongespräche aus Stockholm. Weiß der Kuckuck, was zum Teufel sie da wieder ausbrüteten!
– Man kann wohl ohne weiteres sagen, daß die Krise, dieses gefährliche Übergangsstadium, ein organischer Teil jedes Staates ist und daß ein Staat nur durch Krisen weiterlebt, weil die Krisen den Staat dazu zwingen, adäquate Mittel zu ihrer Bewältigung hervorzubringen, Mittel, die vorher noch nicht vorhanden waren.
– Genau, sagte Dr. Kortz und merkte gar nicht, daß er gerade etwas Suppe auf seinen Bart verschüttete.
Die Kellnerinnen brachten den gekochten Fisch und ungewöhnlich bleiche Winterkartoffeln.
Kortz schien sehr entzückt darüber zu sein, daß er verstanden worden war. Offensichtlich war dies der erste größere Erfolg, den er seit Jahren geerntet hatte.
– Aber versuchen Sie nur mal, die Regierung für diese Idee zu gewinnen, die gesamte Partei, die öffentliche Meinung, sagte ich. Man wird es auf eine ganz eindeutige Art interpretieren, und zwar als offizielles Eingeständnis, daß wir uns in einer Krise befinden.
– Aber so ist es doch auch, sagte Dr. Kortz erstaunt. Er hatte wirklich gräßlich unappetitliche Tischmanieren.
– Natürlich befinden wir uns in einer Krise. Es ist nur noch eine Frage von Jahren, bis die richtig große Inflation ins Rollen kommt, denn mit Hilfe der Inflation kurbeln wir den Konsum an. Der Wohnungsbau hat seit etwa einem Jahr stagniert, weil die Preise sich der Nachfrage nicht angepaßt haben. Die Gewerkschaften erleben einen Vertrauensschwund, weil sie viel zu sehr in die Produktion integriert sind. Die regionale Industrieplanung ist im großen und ganzen ein Fehlschlag...
– Da bin ich ganz und gar nicht Ihrer Meinung, sagte Myhrquist.
Er schien sich von den Schrecken seiner morgendlichen Begegnung mit dem
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