Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
begann, seine eigenen Akten aus einer riesigen alten Aktenmappe hervorzukramen.
Er holte einen der schicken Stühle vom Konferenztisch in der Ecke, schleppte ihn an meinen Tisch und setzte sich neben mich, um mir alles richtig zeigen zu können. Er putzte seine Brille nervös und sorgfältig mit dem Schnupftuch. Ein schwacher Duft nach Schnupftabak, nach altem Schreiner ging von ihm aus, als er so dicht neben mir saß.
Er machte eine Geste, als wolle er den ersten der Aktenordner öffnen, einen großen gelben, auf dem »Nördliches Värmland« in seiner eigenen, großen kindlichen Schrift stand, schlug ihn aber wieder zu, wie überwältigt von der Ungeheuerlichkeit des Materials.
– Weißt du, was Leukämie ist?
– Ja, so ungefähr. Eine schreckliche Krankheit. Das Blut zerfällt in seine chemischen Bestandteile.
– Ja. Wir haben eine neue, sehr rasch fortschreitende Leukämie entdeckt, von der Ende der sechziger Jahre die Hasen befallen wurden. Die Epidemie schien in Wellen aufzutreten. Alle zwei Winter nahmen die Fälle zu, alle zwei Winter waren sie fast verschwunden. Aber mit jedem Mal waren es mehr Fälle. Ich hatte ein paar Förster, die mir halfen, sie zu sammeln. Die Hasen saßen völlig hilflos da, ohne sich zu bewegen, wenn man sich ihnen näherte. Die Untersuchungen zeigten, daß sie von einer rasch fortschreitenden Leukämie sehr geschwächt oder fast tot waren, die im Knochenmark der Extremitäten begann.
– Pfui Teufel!
– Ich habe eine Karte über die Fälle angefertigt – sie muß hier irgendwo sein, verdammt, doch, hier ist sie. Du siehst, daß ich die Fälle je nach ihrer Dichte in konzentrischen Kreisen angeordnet habe. Sie verdichten sich ziemlich schnell, wie du siehst, das Zentrum liegt hier, im nördlichen Klarälvsdalen. Im Prinzip könnte man von einem weiteren Zentrum sprechen, da, im südlichen Hälsingland. Ich bin natürlich hinaufgefahren und habe es mir angesehen, zusammen mit einem Jungen, einem Doktoranden, der schon einen großen Teil der Funde überprüft hatte. Wir haben eigentlich nichts anderes gefunden als ungeheuer große Kahlschläge. Offenbar hatten sich die Hasen in diesen Kahlschlägen aufgehalten. Wir haben Bodenproben und Proben von der Vegetation mitgenommen, um herauszukriegen, was da für ein Unheil im Gange sein könnte. Wir fanden verschiedene Spurenelemente, aber nichts wirklich Aufregendes, nichts, was direkt in eine bestimmte Richtung wies. Es gab Quecksilber in den Hasenkörpern...
– Wie stellt man das fest?
– Indem man sie verbrennt und die Asche analysiert. Eine schmutzige und vor allem verdammt schmierige und zeitraubende Arbeit. Es nimmt verflixt viel Zeit in Anspruch, und man macht sich bei seinen Laborgehilfen unbeliebt, wenn man sie das ein paar Monate lang tun läßt.
Es gab also Quecksilber, auch verschiedene fremde Spurenelemente. Die Radioaktivität, die ja seit den fünfziger Jahren erheblich abgenommen hat, war so, daß man sie als normal bezeichnen könnte.
Wir machten bakteriologische Untersuchungen, fanden aber keine abweichenden Bestandteile in der Bakterienflora. Es ist uns nicht gelungen, ein Virus zu isolieren – was aber nicht bedeutet, und das muß ich besonders betonen, daß nicht doch ein Virus vorhanden sein könnte – das nachzuweisen ist ungefähr genauso kompliziert wie nachzuweisen, ob Krebs von einem Virus hervorgerufen wird oder nicht.
– Scheußliche Sache!
– Ja, das kann man wohl sagen. Aber du hast das Schlimmste noch nicht gehört.
– Ich ahne es...
– Bist du sicher, daß uns niemand hören kann?
Ich kontrollierte die Sprechanlage. Es gab einen besonderen Knopf, mit dem man sie ganz abstellen konnte. Ich zögerte einen Moment, dann tat ich es ganz einfach. Stellte sie ab.
– Bist du sicher, daß ich nicht Wittfogel dazuholen soll?
– Hör mal, ich wäre dir aufrichtig dankbar, wenn du so nett wärst, noch ein bißchen damit zu warten. Ich werde dir schon noch erklären, warum, aber es wäre wirklich gut, wenn ich erst mal unter vier Augen mit dir reden könnte.
– O.K. Es hat also auf Menschen übergegriffen?
– Acht sichere Fälle, drei unsichere, und von den elf sind fünf im innersten Kreis konzentriert.
– Das ist ja wirklich eine große Sache, verdammt noch mal!
Vor lauter Schreck wollte ich schon zum Telefon greifen, als gäbe es jemand, den man hätte anrufen können. Eine Feuerwehr oder etwas Ähnliches.
Es dauerte tatsächlich einen Moment, bevor mir aufging, daß ich ja der
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