Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Chef dieser Feuerwehr war. Ich glaube, ich habe noch nie in meinem Leben ein so scheußliches Gefühl gehabt.
    – Aber bist du denn sicher?
    – Ziemlich sicher. Oder besser gesagt, sicher genug, daß wir weitermachen müssen. Ich habe einen Teil dieses Winters, seit November, damit verbracht, die Jahresberichte der Bezirksärzte durchzugehen. Ich habe medizinische Statistiken hin- und hergewälzt – und das ist weiß Gott nicht meine Stärke – ich habe sogar verschiedene Sachen in den Computer gesteckt, in größter Heimlichkeit – ich habe einen alten Kumpel in der Technischen Hochschule, der mir geholfen hat, das Ganze so hinzudrehen, als hätte es etwas mit Schweißtechnik zu tun, ich bin beim Sozialamt gewesen und habe dort in aller Stille recherchiert, und ich muß dir sagen, wenn es nicht dieselbe Leukämie ist, haben wir ein verdammtes Glück.
    – Wie schnell breitet es sich aus?
    – Es ist nicht bakteriell, wie ich schon sagte.
    – Aber wie gefährlich ist es denn?
    – Unendlich gefährlich. Gegen bakterielle Krankheiten gibt es Impfstoffe. Aber gegen dies hier gibt es kein bekanntes Mittel.
    – Es sind sehr wenig Fälle.
    – Das hat nichts zu sagen. Bei den Hasen sind es schon um hunderttausend.
    – Wie sehen diese Fälle aus?
    – Wie gesagt liegt das Zentrum im nördlichen Klarälvsdalen.
    – Genau wie das Zentrum der Hasen...
    – Und es sind recht verschiedene Menschen. Zwei Waldarbeiter, die die Kahlschläge gerodet haben, beide schon ziemlich alt, mit Rückenbeschwerden, bei Korsnäs Marma angestellt und wegen ihrer Rücken zu dieser Arbeit versetzt.
    – Du hast noch nicht mit ihrem Betriebsarzt gesprochen?
    – Ich bin keine medizinische Autorität. Und vergiß nicht, wenn du ihre Unterlagen verlangst, ist es vorbei mit der Geheimhaltung.
    – Unsinn. Ich kriege sie durch das Sozialversicherungsamt.
    – Unsinn, sagst du. Du wirst sie bekommen, aber es wird seine Zeit brauchen. Und es wird alle Krankenberichte beeinflussen, die unterdessen geschrieben werden.
    – Sind denn alle Betriebsärzte unredlich?
    – Das habe ich doch gar nicht behauptet. Aber wenn sie wissen, wonach man in ihren Krankenberichten sucht, wird das zweifellos einen Einfluß darauf haben, wie sie sie abfassen. Wenn sie wissen, daß eine Leukämiediagnose eine äußerst zwiespältige Angelegenheit ist, werden sie natürlich sehr gewissenhaft sein, bevor sie bei einem Patienten Leukämie hinschreiben.
    Das kann doch gar nicht anders sein. Das ist keine Frage der Unredlichkeit, im Gegenteil, es ist eine Frage der Gewissenhaftigkeit.
    – Kahlschläge, sagtest du?
    – Zieh keine voreiligen Schlüsse. Es gibt mehrere Kategorien. In einer der interessantesten sind vier Kinder.
    – Mein Gott!
    – Vier zurückgebliebene, oder wie es heute heißt, extraordinäre Kinder in einem privaten Pflegeheim in Sunne.
    – Ist es verwahrlost?
    – Wie zum Teufel soll ich denn das wissen? Ich bin noch nie dagewesen. Ich bin kein Arzt.
    – Aber wie sollen wir weiterkommen?
    – Das zu entscheiden ist deine Sache. Dafür wirst du bezahlt. Du bist hier der Bevollmächtigte. Ich übergebe dir jetzt die Akten. Ein Teil des Materials, d.h. das Material, das ich selbst geschrieben habe, ist mit der Hand geschrieben, ich hoffe, du wirst es lesen können. Ich wollte es niemand diktieren, und aufs Maschineschreiben habe ich mich noch nie besonders verstanden.
    Ich saß eine Weile schweigend da. Mir fiel ein, daß mir noch zwölf Minuten blieben, bis die Etatskonferenz anfing. Das Telefon, d.h. die Sprechanlage, war immer noch abgestellt. Ich starrte sie an. Vermutlich hatten massenhaft Leute mich zu erreichen versucht, um mit mir über den Etat zu reden.
    – Klas!
    – Ja.
    Er war wieder intensiv mit seiner Schnupftabakdose beschäftigt.
    – Wie ernst ist diese Sache eigentlich?
    – Ich weiß es nicht. Es kann eine völlig falsche Spur sein. Kann sein, daß überhaupt nichts mehr passiert, kann sein, daß es der Anfang einer Katastrophe ist. Einer Riesenkatastrophe !
    – Ich werde veranlassen, daß die Behörden sich das ansehen!
    – Davon würde ich dir abraten.
    – Warum denn?
    – Weil du dann ein für allemal diese Kommission entmündigst, die doch letzten Endes ein Expertengremium ist. Du wirst sehen, wie man sie zu einem Haufen von Laufburschen reduziert, halbwegs geheimen Laufburschen zwar, aber immerhin zu Laufburschen für andere Behörden, und das schneller, als du ein Monatsgehalt beziehen kannst.
    – Ich glaube, da hast du