Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
Monteverdis »Madrigali e canzonette«, erschienen 1651 in Venedig, schwebte mit halluzinatorischer Deutlichkeit durch mein Gedächtnis: »Con dardo di morte Il cor saneró. 1
Glücklich versank ich in einer Welt, in der es keine Universitätsreformen gab, in der kein Vertrauen enttäuscht werden konnte: warme Dunkelheit und die goldenen Wellen des Madrigals: Dunkelheit, Wehmut und die goldene Schlinge eines Haares.
Aus dem leichten Schlummer wurde ich jedoch aufgestört. Ich hatte das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Den Kopf noch zwischen den Armen auf den Tisch gestützt, schlug ich die Augen auf. Ich merkte, daß der Kanzler der Universität mich mit seinen aufmerksamen, leuchtendblauen Augen ansah. In meiner Schlaftrunkenheit hatte ich den Eindruck, daß er mich zum Reden aufforderte. Ein diffuses Schuldgefühl veranlaßte mich, augenblicklich ums Wort zu bitten.
Ich erklärte, daß meine Erfahrungen mit kontinuierlicher, langfristiger Planung begrenzt seien und daß ich gerade deshalb den eben vorgetragenen, hervorragenden Ausführungen mit großem Gewinn gelauscht hätte. Ich wies auf die Gefahr hin, die in jeder prognostischen Tätigkeit liegt: daß die Prognose nämlich, all ihrem Anspruch auf empirischen Unterbau und auf größtmögliche Objektivität zum Trotz, in Wirklichkeit zu etwas anderem, etwas Subjektivem werde, zu einem Instrument in der Hand der beschlußfassenden Behörden. Die möglichen Folgen: mangelnder Realismus, eine Kluft zwischen Wirklichkeit und Plan, zwischen dem Begriffsapparat der Prognosen und der historischen Entwicklung, stellten eine nicht zu unterschätzende Gefahr dar.
Auf einen Punkt wolle ich die Aufmerksamkeit ganz besonders lenken: im Kanzleramt beschäftige man sich in außerordentlich großem Umfang mit der Einrichtung beziehungsweise Abschaffung von Planstellen an den Hochschulen. Wesentlicher als diese Planstellen seien aber vielmehr die Funktionen, die diese Planstellen erfüllen sollten. Kein Plan könne letztlich von der Frage absehen, welches die vornehmlichsten Aufgaben einer Universität seien, das heißt von der Frage, was Wissen ist und welche Aufgabe es in einer lebendigen Gesellschaft hat.
Ich setzte mich mit einer leichten Verbeugung. Ein angespanntes Schweigen folgte auf meine Rede. Ich deutete es so, daß ich zu weit gegangen sei; ich hatte mich blamiert.
Ich versank in einen düsteren Halbschlaf, der Kopf sank immer tiefer zwischen die Arme. In langer Reihe folgten die Redner aufeinander. Ausbaupläne, Materialbudgets und bevölkerungsstatistische Prognosen bis hin zum Jahre 1985 (Herrgott! Wer wagt es, in seinem Privatleben Pläne für 1985 zu machen? 1985 kann ich mich in einem Internierungslager befinden, im Scheinwerferlicht in einer arktischen Landschaft bei Kiruna von Schäferhunden bewacht. 1985 findet meine Ordination unter feierlichen Zeremonien im Dom zu Västerås statt. 1985 liege ich bewußtlos in einer Klinik, mit Schläuchen in der Nase. 1985 pflüge ich in Ångermannland einen Acker mit einem Holzpflug, den ich selbst hergestellt habe und der von meinen Kindern gezogen wird. 1985 redet man in Saint Tropez über den exzentrischen Schweden, von dessen Yacht aus gerade ein schnelles Motorboot zum Festland geschickt wird, um zwei elegante Mannequins in weißen, breitrandigen Hüten an Bord zu holen, 1985 sind wir alle tot, 1985 zeichnet sich deutlich das Bild des neuen, des liebenden Menschen ab. Kurz gesagt: allein schon der Begriff 1985 enthält eine Herausforderung, eine Obszönität, die sich niemand in seinem Privatleben erlauben würde, die wir uns aber schamlos im Namen der Gesellschaft erlauben, als wäre sie weniger lebendig, weniger ausgeliefert, weniger blind und verletzlich als wir selbst) wurden von dem Overheadprojektor in eleganten Diagrammen auf die weiße Leinwand geworfen.
Plötzlich bemerkte ich etwas, das meine Aufmerksamkeit erregte. Kein einziger von den Rednern versäumte es, Bezug zu nehmen auf »Herrn Gustafssons Ausführungen«, »wie Herr Gustafsson schon sagte«, »die Gustafssonsche Beobachtung«. Ich erstarrte. Ich hörte genau zu, ohne jedoch den Zusammenhang recht zu verstehen. Griff man mich an, oder berief man sich auf mich, oder verwies man nur auf mich? Was war geschehen? Was hatte ich gesagt? Was hatte ich denn jetzt bloß angestellt?
In diesem Augenblick verkündete der Vorsitzende, daß in der Galerie ein leichter Lunch serviert werde und daß alkoholische Getränke extra bezahlt werden
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