Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
meinem Zimmer in der Hagagatan, schüttelte die Bücher ab, über denen ich am Abend zuvor eingeschlafen war und die kreuz und quer auf der roten Decke aufgeschlagen lagen, und wurde hellwach bei ihrem Lärm.
Manchmal fand das Erwachen auch zu Hause in Västerås statt: ein erschrecktes kleines Kind kroch lautlos in mein Bett und machte sich ein warmes und sicheres Nest unter meinem Arm, drehte sich im Schlaf um und verschwand in seiner eigenen Welt.
Schnee fiel, er sank in großen, trägen Flocken herunter. Die Spatzen fanden keine Sonnenblumenkerne und Brotkrümel mehr auf meinem Futterbrett, die rundliche, freundliche Postbotin stapfte durch den Schnee, ihre Tasche war voll von Einladungen zu rumänischen Lyriktagen, Diskussionsabenden in Stockholm und Malmö über den Zustand und die Krise der Welt, neuen Lyriksammlungen, Vietnambulletins, Le Mondes Wochenbeilage mit detaillierten Berichten über Kämpfe im Mittleren Osten, Revolutionsbewegungen in Lateinamerika und die beginnende große Dämpfung der Konjunktur in den Vereinigten Staaten, über den Krieg im Sudan, den Krieg im Irak, den Krieg in Vietnam, den Krieg in Laos, den Krieg zwischen Nigeria und Biafra. Da kamen Bücher von norwegischen Soziologen an, mit Formeln gespickte Aufsätze von amerikanischen Universitäten, an denen ich einmal Vorlesungen über Logik gehalten habe, Einladungen zu christlichen Meditationstagen in Runmarö, auf Matritzen abgezogene Zeitschriften, in denen Mitglieder der linken Organisationen einander beschimpften, Einladungen zum Philosophischen Verein in Uppsala, wo die Dozenten Åqvist und Wennerberg Seminare zum Thema »Die Logik der Fragen« veranstalteten, und Briefe von Schweizer Theatern, die die »Nächtliche Huldigung« spielen wollten.
Privatbriefe, die lebendigen Stimmen, die waren seltener, die hatten es schwer, sich Gehör zu verschaffen in diesem babylonischen Marktgewimmel von Angebot und Gegengebot. Ein Junge aus Lund schickte mitten im Schnee einen Brief und fragte mich etwas über meine Lyrik: jemand hatte ihn aufgefordert, eine Art Seminararbeit zu schreiben. Ich war erstaunt, fast schockiert darüber, daß diese Gedichte immer noch für irgend jemand existierten. Für mich waren diese dünnen Büchlein so unwiederbringlich fern und verloren wie die regnerischen Sommer der frühen sechziger, der späten fünfziger Jahre.
Die Lyriker der sechziger Jahre, ein Tranströmer, ein Sonnevi, ein Forssell, ein Petter Bergman, hatten, wie ich selbst, in einer fast unmöglichen Situation ihr Bestes gegeben. Sie hatten sich ihre Handwerksehre erhalten, sie hatten es vermieden, ihr Gedicht zum Objekt zu machen, zu frostig sterilen Verkaufsprodukten von der Art, mit denen die Maler dieser Periode unter verzweifelten Witzeleien ihre Zeit verplempert hatten. Keiner von ihnen, und am allerwenigsten ich selbst, hatte die Kraft oder den Mut oder die Zähigkeit gehabt, mit Überzeugungskraft und Stärke zu reden. Sie hatten, jeder auf seine Weise, auf Gebiete hingewiesen, wo noch menschliche Werte vorhanden waren, hatten sie nervös eingekreist, sie im grellen Blitzlicht der Metaphern zu fotografieren versucht. In einer Sprache, die scheu und rein und keusch sein konnte wie bei Sonnevi oder unrein, obszön und aufdringlich wie bei Lars Norén, hatten sie Formen der Unruhe, des Entsetzens, des Glücks, der Verzweiflung gezeigt, aber immer mit einer unausgesprochenen Scheu, als könnte die Lyrik nicht mehr selbstverständlich einen Platz in der Welt beanspruchen.
Und ich selbst? Der Brief des Studenten aus Lund erinnerte mich mit fast physischem Schmerz an alles, was meine eigene Lyrik mich einmal gekostet hatte, wie ich sie ein für allemal der schon toten, sterilen Gewänder entledigt und langsam, langsam versucht hatte, sie das Sprechen zu lehren, wie ich sie zu lehren versucht hatte, einen Zustand festzuhalten, eine Unruhe, ein Glück, eine Trauer, weil diese festgehaltenen Zustände auf eine erschreckende Weise das letzte waren, was mich mit mir selbst und mich selbst mit der Geschichte verband, mit der Geschichte des lebendigen Menschen, des kommenden Menschen.
Und wie zuletzt, als sie sprechen konnte, niemand zugehört hatte. Und hatte ich ihr etwa selbst zugehört?
In diesen Gedichten gab es, in verschiedenen Formen, auf verschiedene Arten, das Bild einer Freiheit, einer Möglichkeit zu fliegen, einer Möglichkeit sogar zur Liebe. Vorsichtig, über die Schulter, mit halb abgewandtem Gesicht, hatte ich von dieser Welt
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