Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
den Lauf in ihren Lauben.)
Du hast ganz recht. Ich gehöre zu den Leuten, die schon mit siebenunddreißig Jahren zu meinen beginnen, daß die Welt einmal unvergleichlich viel besser gewesen sein muß, als sie es heute ist, zu den Anhängern der Paradiesmythen also.
Es ist natürlich das Erlebnis der Kindheit, das da herumzugeistern beginnt, das Erlebnis, daß es ein Alter gab, in dem man fähig war, viel stärkere, viel verrücktere, viel perversere Wünsche zu haben als heute.
Es war kein glückliches Alter, aber hinterher erscheint es einem glücklicher, weil es die Fähigkeit einschloß, sich viel größere, viel radikalere Formen des Glücks vorzustellen.
Die Neumalklugen stellen in den Zeitungen die Frage, wozu wir eigentlich die Kunst bräuchten. Wozu brauchen wir die Kunst? Eine Trompetenphrase bei Strawinskij, ein unendlich dissonanter Akkord bei Gesualdo, eine lachende Bläserpassage bei Berlioz, der Zopf der Simonetta Vespucci auf Botticellis Porträt... ja, mein Gott, wozu brauchen wir die Schönheit? Um daran erinnert zu werden, wer wir sind, natürlich. Um uns an die Kindheit zu erinnern. Um uns an den blinden, klugen Hunger der Kindheit zu erinnern, wir selbst zu sein.
O Gott, welcher Idiot ist bloß als erster auf die Idee gekommen, es sei das Höchste im Leben, sich für ein Kollektiv zu opfern? In seiner langen Geschichte hat Europa eine einzige intellektuelle Tugend besessen, und die besteht darin, daß seine Philosophen, Schriftsteller, Maler und Komponisten uns immer wieder daran erinnert haben, daß wir Individuen sind.
Also: uns an unsere wirklichen Dimensionen, an unsere Kindheit erinnert haben.
Als ich sieben Jahre alt war, saß ich einmal hoch oben auf einem Balken unter dem Dach einer Scheune. Es waren mindestens vier Meter bis zum Boden.
Du traust dich ja doch nicht zu springen, sagten meine boshaften kleinen Kameraden, die unten standen, klein wie Münzen mit ihren im Dämmerlicht emporgewandten weißen Gesichtern. Du traust dich ja doch nicht zu springen. Du brichst dir die Knochen.
Aber ich will springen, sagte ich.
Und ich sprang. Nur hatte keiner die alte Schrotsäge bemerkt, die da unten im Halbdunkel stand und mich leicht hätte töten können, wenn es nicht so gekommen wäre, daß sie mir einen ganz imponierenden Schnitt am rechten Oberschenkel beibrachte, aus dem das Blut herausspritzte.
Ich regte mich nicht besonders auf, und damals nähte man selten Wunden, die von selbst heilen konnten. Ich wußte ja, daß man immer bezahlen muß.
Aber, und das ist das Wichtige, ich sprang nicht, um die erwartungsvollen kleinen Gesichter des Kollektivs da unten zu befriedigen. Ich sprang, weil dieser Sprung mein eigenes geheimnisvolles Kunststück war, meine eigene Art, mir zu sagen, daß das Leben herrlich ist, und wie herrlich es ist, weiß nur ich selbst.
WIR HABEN ES NOCH NIE UND NIE WIEDER SO GUT GEHABT WIE IN DEN FÜNFZIGER JAHREN
sagt mein Vater oft. Die Koreakonjunktur, einigermaßen überschaubare Steuern, einen ganz anständigen Geldwert, Mieten, die erträglich waren. Irgendwann im Jahre 1952 kaufte er ein Motorrad, eine Husqvarna 125 Kubik, und ich, der ich noch viel zu klein war, um Motorrad zu fahren, half ihm beim Einfahren. Es dauerte etwas, bis man sich mit der Gangschaltung auskannte, aber dann war es ein phantastisches Erlebnis loszubrausen, als Fünfzehnjähriger, verbotenerweise, auf der Landstraße, mit neunzig Stundenkilometern, und den Wind vorbeibrausen zu spüren, den Renaissancewind, den gleichen Wind,
im Grunde genommen,
der in Monteverdis Opern weht.
WARUM HABE ICH NICHT SO WEITERGELEBT?
Die Geschichte von Onkel Stig
Die Tüchtigkeit natürlich. Die Tüchtigkeit hat mich daran gehindert. Man kann ja so nicht leben, wenn man zugleich tüchtig sein und wegen seiner Tüchtigkeit bewundert werden will.
In unserer Familie ist die Tüchtigkeit eine wahre Pest. Wir treiben sie immer ein bißchen zu weit. Wir entdecken früh, daß wir tüchtig sind, die Leute machen uns höflich ein Plätzchen in der ökologischen Nische frei und finden sich damit ab, daß wir so sind, und dann müssen wir natürlich gleich ganz besonders tüchtig sein, und es dauert nicht lange, bis wir völlig fanatisch sind in unserer Tüchtigkeit.
(Neulich habe ich nachgerechnet und herausgefunden, daß ich in einem guten Jahrzehnt mehr als zwanzig Bücher geschrieben habe, ohne zu bedenken, was für einen schrecklich schlechten Eindruck das in einer feinen,
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