Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
schreibgehemmten, empfindlichen Nation wie Schweden macht, wo Dichtung und Geistigkeit stets »dem Schweigen nah verwandt« waren.)
Das ist nicht gut. Tüchtig soll man schon sein, aber mit Maßen.
In unserer Familie entwickelt sich die Tüchtigkeit immer auf die gleiche Weise zur Katastrophe hin.
Ich bin sicher, daß ich der neunte oder zehnte Fall werde.
Onkel Stig ist ein gutes Beispiel.
Wenn ich mich recht erinnere, fing er als Berufssoldat bei der Gardekavallerie an, aber das ist schon so lange her, daß niemand mehr eine genaue Vorstellung davon hat, was er da trieb. Soviel steht jedenfalls fest, daß er nicht zum Oberstleutnant befördert wurde, und ich bin überzeugt davon, daß ihn das im Grunde genommen ungeheuer wurmte. Nach diesem Schnitzer der Gardekavallerie konnte er sie nicht mehr leiden, und danach war er tatsächlich ein paar Jahrzehnte lang Kommunist, damals, als es nicht gerade opportun war, Kommunist zu sein. Ich erinnere mich, daß er etwa zur Zeit des kommunistischen Umsturzes in Prag Stalins Werke subskribiert hat, und er subskribierte sie nicht nur, er las sie auch und schätzte sie.
Ich erinnere mich an einen wirklich unterhaltsamen Spaziergang auf dem Lande im Jahre 1947 im nördlichen Västmanland, bei dem wir ein Glühwürmchen sahen – es war das erste Mal in meinem Leben, daß ich ein Glühwürmchen sah, einen kleinen grünen Punkt, der sich am Straßenrand bewegte und den wir behutsam ins Gras setzten, damit er nicht überfahren würde – und er versuchte mich davon zu überzeugen, daß Stalins philosophische Schriften der höchste Ausdruck des jahrtausendelangen Strebens der Menschheit seien, während ich ihn davon zu überzeugen suchte, daß er sich irre, tatsächlich sei der höchste Ausdruck des jahrtausendelangen Strebens der Menschheit keineswegs Stalins Denken, sondern vielmehr Gustav Mahlers Siebente Symphonie.
Im Jahre 1947 durchlebte ich eine meiner großen Dekadenzperioden und liebte alles, was schön, todgeweiht und weltabgewandt war.
Auf der Basis einer so grundsätzlichen Meinungsverschiedenheit muß man ja einfach Freundschaft schließen.
Ich tat mein Bestes, um ihn davon zu überzeugen, daß es keinen tiefen Widerspruch zwischen Stalinismus und Todessehnsucht gebe (ich argwöhne, daß ich damit ganz recht hatte), und er tat sein Bestes, um mich davon zu überzeugen, daß es keinen Widerspruch zwischen den stalinistischen Prinzipien in der Musikkultur und den Symphonien Gustav Mahlers gebe (es war gerade zu der Zeit, als Stalins Antisemitismus ernstlich zum Durchbruch kam, aber es mag ja sein, daß er trotzdem recht hatte), und ich kann mich noch genau erinnern, daß dieser Spaziergang uns beide überraschte. Keiner von uns hatte sich richtig klargemacht, daß es so viele sonderbare Ansichten auf der Welt gab, und keiner von uns verfügte über wirklich brauchbare Methoden, die Ansichten anderer zu zerpflücken. Deshalb verkündeten wir, daß sie durchaus miteinander zu vereinbaren seien, und suchten weiter nach Glühwürmchen.
Viel früher, gleich nach der Gardekavallerie, begann Onkel Stig sein eigentliches Talent zu entfalten.
Er war Erfinder. Er wohnte zur Miete und hatte seine Werkstatt meist in der Küche, was zu einigen Problemen mit den Nachbarn führte, da er in einer sehr hellhörigen Einzimmerwohnung lebte, aber das war ihm schnurzegal.
Aus seiner Wohnung ergossen sich die Erfindungen einige Jahrzehnte lang über die Welt.
Er war ein regelrechter Stammkunde beim Patentamt, seine Prozesse gegen verschiedene Lizenznehmer hielten mehrere Abteilungen des Stockholmer Amtsgerichts ständig in Trab, denn wie immer er seine Lizenzverträge abfaßte – stets wurde ihm die ganze Erfindung abgeluchst, wenn es Ernst wurde.
Nehmen wir zum Beispiel die Zeit, als er sich für Wasserhähne interessierte!
Er erfand verschiedene raffinierte Drehverschlüsse, wie sie gebraucht werden, wenn man den Schlauch der Waschmaschine an den Wasserhahn in der Küche anschließt oder den Gartenschlauch an den Gartenhahn.
Es gibt etwa zwanzig solcher Drehverschlüsse auf dem Markt, und mindestens fünfzehn davon lassen sich auf Onkel Stigs Küchenwerkstatt in der Stockholmer Südstadt zurückführen. Wie er es auch anstellen mochte – stets klaute ihm jemand in letzter Sekunde das ganze Patent, und obendrein wurde er meist noch dazu verurteilt, die gesamten Prozeßkosten zu tragen. Kein Wunder, daß Onkel Stig Stalinist war! Bei mir hätte es weniger gebraucht, um
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