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Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Titel: Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lars Gustafsson
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es immer sonnig zu sein scheint, weil es so viele Fenster in so vielen Richtungen gibt, du sitzt da, umgeben von deinen Büchern, deinem Telefon und deiner roten Teekanne, die nie kalt wird. Deine schönen schlanken Beine hast du im Sessel unter dir angezogen, und zwischen deinen großen lebhaften Augen bildet sich gerade ein Unmutsfältchen, ungefähr als sei die Sonne hinter den Wolken verschwunden, aber nur für einen kurzen Moment.
    Ich kann mich genau daran erinnern, wie ich zum erstenmal deine großen, außergewöhnlichen Augen bemerkte.
    Es war auf einer Art Vernissage, im Frühherbst 1972. Ich unterhielt mich gerade mit dem polnischen Exilschriftsteller W., einem vierschrötigen kleinen Mann, der noch dazu einen viereckigen weißen Bart und diese hohen Schläfen hatte, wie man sie nur bei polnischen Aristokraten und bei meinem Onkel Stig findet.
    An wen erinnert er mich? Jetzt hab ich’s! An König Sigismund III. von Polen natürlich, wie er auf den sechs Sigismundporträts abgebildet ist, die sich in der Sammlung von Schloß Gripsholm befinden.
    – Sieh an, sagte W. zu mir, da haben wir eine ungewöhnlich schöne Frau.
    – Sag es lauter, sagte ich. Wenn wir Glück haben, hört sie uns!
    – Voilà une beauté merveilleuse, brüllte W., so daß es noch draußen auf der Straße zu hören sein mußte.
    Ich glaube, du hast uns tatsächlich einen Augenblick lang nachdenklich angesehen.
    Es sollte indessen noch bis zum nächsten Jahr dauern, bis wir Freunde wurden.
    Liebe Zwatt, jetzt schreibe ich dir.
     
    In Schweden gibt es im Dezember eine Zeit, in der das Gras spröde wird wie Glas. Es ist noch kein Schnee gefallen, aber der Frost sitzt schon im Boden, und tief in der Nacht, lange vor Sonnenaufgang, wenn alles von einer dünnen Reifschicht bedeckt ist, raschelt es, wenn man durch das schon längst abgestorbene Gras geht.
    An einem solchen Dezembermorgen im Jahre 1956 nahm ich an einem Militärmanöver in einer flachen, einsamen Ebene teil, die Norra Uppland heißt. Wir waren um zwei Uhr nachts geweckt worden und machten jetzt an einem Kreuzweg weit draußen in der Ebene Rast.
    Ich war in einen Graben gekrochen, um ein bißchen zu schlafen, es war ein ganz trockener, bequemer, hartgefrorener Graben. Ich lag auf dem Rücken, die Arme unter dem Kopf verschränkt, und schaute ins Sternenlicht hinauf, das sich manchmal im Reif der Grashalme brach, und dachte, wie unendlich dünn der Mensch doch sei.
    Ja, genau: dünn . Um mich her ein ungeheures, bodenloses Dunkel voller Sterne, im Inneren ein bodenloses, langsam pulsierendes Dunkel. Zwischen diesen beiden Dunkelheiten die seifenblasendünne Schicht, in der die Träume entstehen.
    Und nur dort sind wir, in dieser dünnen Schicht.
    Und zugleich sind in dieser Schicht irgendwie auch alle anderen Menschen.
     
    Mein Gott, was für unpraktische Gedanken! Und doch sind es nur solche Gedanken, die mich letztlich davon überzeugen können, daß mein Dasein einen Sinn hat. Diese ganze kümmerliche Kleinbürgerlichkeit, dieser Geiz, diese verdammte Tüchtigkeit, die die Geschichte mir aufgezwungen hat und das Schicksal, in einer Mietskaserne am Stadtrand von Västerås aufgewachsen zu sein, das alles sagt mir, ich dürfe solche Gedanken nicht denken. Sie stehen mir nicht zu .
     
    G., ein Mädchen, das ich flüchtig kenne, bekam neulich eine scheußliche Wurzelentzündung im Oberkiefer. Sie ging zum Zahnarzt. Er schaut es sich an. Das ist eine ziemlich unangenehme Sache, sagt er, man muß den Kiefer operieren, und das ist eine sehr komplizierte Operation. Haben Sie Geld?
    G. hatte kein Geld. Ja, dann kann ich leider nichts machen, sagt der Zahnarzt. G. rennt seit ein, zwei Tagen im Sozialamt herum, um die drei-, vierhundert Mark zusammenzukriegen, die man von ihr verlangt, bevor man sie von einem unerträglichen Schmerz befreit.
    Was für einen Unterschied macht es, moralisch gesehen, ob man einen Menschen mißhandelt, um zu vierhundert Mark zu kommen, oder ob man einen Menschen unerträgliche Schmerzen leiden läßt, um zu vierhundert Mark zu kommen?
    Ich war in derselben Woche beim Zahnarzt.
    – Es ist eine Kavität in einem Molaren, links oben sieben, sagte ich, als ich hereinkam. Niemand verlangte im voraus Geld von mir, die Rechnung war lächerlich niedrig, alles lief wie geschmiert.
    Ich glaube, es hat mehr als drei Jahrzehnte gebraucht, bis ich erkannt habe, daß manche Menschen von einem Schutznetz umgeben sind, das den meisten fehlt.
    Selbstverständlich sind

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