Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
klammerte sich am Haltegriff fest und pinkelte trostlos in den Regen hinaus.
Längs der Straße duftete es nach frisch ausgeschlagenen Kastanien, es war Frühling, aber – wie so oft in Polen – ein kalter, ein erkältungsträchtiger Frühling.
Es war noch lang bis zum Nachmittag und noch weit bis Krakau, dem Endziel der Etappe.
Ein Kilometer folgte dem anderen, ohne daß etwas Besonderes passierte.
Niemand hatte den neuen Fahrer in den schwarzen Hosen und dem goldschimmernden Trikot mit dem Clubzeichen ANDROMEDA richtig bemerkt, bis er schon eine ganze Weile in der Spitzengruppe hinten gelegen hatte. Er trug die Nummer 666 auf dem Rücken und fuhr mit einem kräftigen, ruhigen Tritt. Wo mochte er herkommen? Er hatte sich offenbar in der letzten langen Birkenallee an die Spitzengruppe herangekämpft.
– Wer zum Teufel ist denn das, fragte man im Wagen der Rennleitung. Ach ja, da gab es doch eine Nummer 666.
Withold Gork vom Fahrradclub ANDROMEDA in Kattowitz. Niemand von den Veranstaltern hatte je etwas von einem Fahrradclub ANDROMEDA in Kattowitz gehört. Aber in Polen gibt es viele Fahrradclubs.
Der schwarze Fahrer trug eine Schutzbrille und hatte eine schwarze Clubmütze bis zu den Augenbrauen heruntergezogen, wie die Journalisten feststellten.
Er schien in ausgezeichneter Form zu sein, hatte aber offenbar nicht den Ehrgeiz, die Führung zu übernehmen, sondern ließ sich als letzter in der Gruppe mitziehen.
Nach einer Weile bekam er trotzdem ein Zeichen vom Betreuerwagen, die Spitze abzulösen, und das tat er dann offenbar mit der größten Leichtigkeit. Dafür fiel Ferdinand Forsche erleichtert auf seinen Platz zurück, und der Mann von ANDROMEDA übernahm die Führung. Der Wind war jetzt ein wenig stärker geworden, die Kronen der Weidenbäume bewegten sich unruhig. Die Schulklassen am Straßenrand wurden immer spärlicher und sahen immer wehmütiger aus mit ihren kleinen Wimpeln in den Händen.
Der Neue führte ausgezeichnet. Er hatte eine Fähigkeit, die Rennfahrer ganz besonders bei jemand schätzen, der die Führung einer Gruppe übernimmt: Er hielt ein ganz phantastisch gleichmäßiges Tempo. Er lag genau an der oberen Grenze dessen, was die Fahrer bei diesem Wetter leisten konnten, er machte nicht den geringsten, nicht einmal einen mikroskopisch kleinen Ruck, und als der Gruppe die letzte halbe Stunde angezeigt wurde, stellte sich heraus, daß sie ihr Tempo seit der vorhergehenden halben Stunde um fünf Kilometer erhöht hatte.
– Phantastisch, sagte Herr Gerber, der Leiter der DDR-Mannschaft. Gegen Nachmittag wird er gefährlich werden. Aber wer zum Teufel ist Withold Gork? Von diesem Burschen hab ich doch noch nie was gehört? Und was ist das überhaupt für ein Fahrradclub, ANDROMEDA aus Kattowitz?
Er blätterte hektisch in seinem Programm, aber da stand nichts weiter, als daß Withold Gork als Nummer 666 eingetragen war. Was hatte er denn, verdammt noch mal, in den anderen Etappen gemacht?
Gork hatte an jeder der fünf vorhergehenden Etappen teilgenommen und war komischerweise jeweils genau die Durchschnittszeit der Etappe gefahren. Welch sonderbarer Zufall, dachte Herr Gerber.
Gegen drei Uhr nachmittags wurde es allmählich ganz offensichtlich, daß Gork aus Kattowitz die Sensation des Tages war und daß er in dieser Etappe den Sieg davontragen würde. Die letzten fünfundzwanzig Kilometer hatte er ununterbrochen die Führung gehabt, in einem eisigen, immer stärker werdenden Wind, und hatte alle mehr oder weniger großzügig gemeinten Angebote eines Führungswechsels nur mit einem Kopfschütteln zurückgewiesen. Dieser Bursche mußte unglaublich hartnäckig und enorm durchtrainiert sein. Was zum Teufel hatte er in den vorhergehenden fünf Etappen getrieben, wo er sich offenbar immer damit begnügt hatte, genau in der Mitte zu landen, und zwar so genau, daß es sich mit dem mathematischen Mittelwert deckte? Selbst alte Friedensrennenprofis schüttelten den Kopf.
– Das wird er nie bis zum Endspurt durchhalten, meinten sie.
Später am Nachmittag, kurz vor Krakau, kam endlich die Sonne durch, und es hörte auf zu regnen. Ziemlich viele Leute standen am Wegrand, und über der Zufahrtsstraße nach Kattowitz, die sich an jenem Hügel mit dem Schloß und dem Dom vorbeischlängelt, hingen feierliche rote Spruchbänder mit Texten wie:
KRAKAU HEISST DIE TEILNEHMER DES FRIEDENSRENNES WILLKOMMEN
und da waren viele Schulklassen versammelt und kleine Pioniere mit hübschen
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