Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
doch, eine solche Frage zu stellen!
Ich muß immer wieder kichern, wenn ich diese religionspsychologischen Theorien lese, die besagen, verschiedene Völker und Kulturen hätten Gott als eine Art Verlängerung oder Projektion des Vater-Ichs erfunden.
Der große Papa mit der Rute und der Bonbontüte! Was für ein lächerlicher, völlig überflüssiger Umweg, um eine einfache Sache zu erklären.
Warum sollten wir das Vater-Ich vergrößern müssen? Es ist doch so selbstverständlich, finde ich, daß es unser eigenes Ich in kosmischer Vergrößerung ist, das wir meinen, wenn wir Gott sagen.
Jeder einzelne von uns nennt sich »ich«, und zwar mit dem gleichen Recht. Nur ein einziger Mensch hat das Recht, sich »ich« zu nennen: der Redende.
Es gibt nur eine Möglichkeit, dieses Problem zu lösen, und zwar durch ein Ich, das die Welt umfaßt, die Welt erschafft.
Das souveräne Ich, eingesperrt in seine Strukturen, die sich ständig wiederholen. Das gelähmte Ich, eingesperrt in die Geschichte, die auch nicht einen Millimeter Spielraum läßt für Handlungsfreiheit, Souveränität, Glück. Irgendwas stimmt da nicht! Es gibt da etwas, das ich ganz und gar nicht verstehe. Das Leben besteht in der äußersten Analyse aus unseren Träumen vom Leben, aus der Bedeutung, die wir ihm selbst zu geben vermögen. Das Leben besteht letzten Endes aus allem, ich sage allem, außer dem einen: unseren Träumen.
Armer König Sigismund, schon so lange in seinem schweren Kalksteinsarg eingesperrt. Zwatt, meine Freundin, ich weiß, was wir tun! Wir geben ihm eine Chance! Wir lassen ihn raus!
Ja. Das machen wir. Es geht so:
Das Friedensrennen 1973:
Siebente Etappe
In den Dörfern und Kleinstädten Mittelpolens war schon den ganzen Morgen ein eisiger Sprühregen gefallen.
Trotzdem säumten eine Menge Zuschauer die Weidenalleen, als die siebente Etappe des Friedensrennens vorbeisauste. Besonders gegen Mittag, als die Fabriken und Geschäfte Pause machten, konnte es an den Straßenrändern fast schwarz werden vor Leuten.
Der jüngste der Brüder Fåglum hatte an diesem Morgen aufgeben müssen: Er war einfach zu erkältet. Drei Tage lang hatte er sich abgequält, mit klopfendem Herzen und fiebertrüben Augen, vor denen die Alleen zu einem einzigen, verdammten grünen Korridor verschwammen. Der kalte, dünne Regen, der Tag für Tag fiel, machte den Asphalt schwer befahrbar, das Kopfsteinpflaster der Dörfer schüttelte die Blaubeersuppe in den Mägen der Radfahrer durch.
Manchmal mußte die ganze Kolonne, mit ihren Begleitwagen, Friedensbanderolen, dem Reparatur- und Ersatzteilauto, den Motorradpolizisten, der Spitzengruppe, noch mehr Motorradpolizisten, der langgezogenen Kette von Fahrern hinter der Spitzengruppe, diese ganze lebhafte, ausgedehnte Friedensmanifestation, vor einem Bahnübergang bremsen, wo eine schnaufende, qualmende Dampflok mit unzähligen Wagen an den Schranken vorbeirumpelte.
Wenn das Ungetüm dann endlich verschwunden war, in einer Wolke von Steinkohlenrauch einsam vor sich hin ratternd, starteten die Motorradfahrer ihre Motoren, und die Spitzengruppe (die Hosen an den nassen Schenkeln klebend) steigerte wieder ihr Tempo. Jedesmal, wenn das Rennen auf diese Weise an einem Bahnübergang stockte, erstarrte alles in der Lage, in der es sich gerade befand, regungslos wie auf einem Foto, um sich dann weiterzubewegen wie zuvor.
Die Oberschenkelmuskeln der Fahrer schmerzten höllisch nach jedem dieser Aufenthalte im strömenden Regen, und manch einer fragte sich, was ihn eigentlich dazu bewogen habe, Rennfahrer zu werden.
Der jüngste Fåglum hatte wie gesagt aufgegeben, die übrigen befanden sich noch immer in der Spitzengruppe. An der Spitze lagen außerdem noch der Jugoslawe Michailov Bogomile, die große Hoffnung seines Landes, der Ungar Stanko Raikowicz und Ferdinand Forsche aus der DDR, der Sieger der gestrigen Etappe.
Die Gruppe war gegen zehn Uhr morgens ausgerissen, man hatte sich in der Führung ganz gut abgewechselt, ohne allzuviel Zank und Streit, und hatte den Sog des regennassen Asphalts geschickt zu nutzen gewußt, um einen ordentlichen Abstand zwischen die Spitzengruppe und das Hauptfeld zu legen.
Alles lief nun sehr gut zwischen den Bahnübergängen, die mit tödlicher Monotonie wiederkehrten. Die Wechsel in der Gruppe gingen ruhig vonstatten, keiner machte eine Dummheit, der Regen fiel ununterbrochen, manchmal winkte ein Fahrer auf einer sehr einsamen Strecke den Betreuerwagen heran,
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