Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
es nicht meine bescheidenen finanziellen Mittel, die man belohnt. Man belohnt meine Sprache, meine korrekte Grammatik.
Selbstverständlich ist es nicht so, daß diese Sprache als Signal dient oder als Abzeichen für die Mitgliedschaft in dieser kleinen Gruppe, die immer gut behandelt wird.
Der Grund dafür, daß man meine Sprache belohnt, ist die Möglichkeit der Kontrolle, die sie vermittelt.
Es ist eine Sprache, die es einem ermöglicht, selbst zu formulieren, was mit einem geschieht.
Ich erinnere mich genau, wie es war, als ich noch in die Grundschule ging und sie noch nicht beherrschte.
Was wir formulieren können, wird uns in der Regel nicht angetan. Was wir nicht formulieren können, wird uns angetan.
Mir hat man etwas angetan, das ich nicht formulieren kann.
Deshalb liegt dieser Sigismund, über den ich nun schon so lange gescherzt habe, trocken und tot und von Spinnweben umhüllt in seinem Grab.
Auffallend oft sieht man bei jüdischen Frauen, daß sie ihre Haare auf eine besondere Art nach hinten stecken, wobei die Ohren frei bleiben. Das machst du manchmal auch, ohne darüber nachzudenken.
Nun ja, meine Großmutter Emma, die keineswegs eine Jüdin war, trug ihr Haar ganz genauso.
Es ist schon etwas Sonderbares mit diesen Zeichen, die wir selbst erfinden, diesen Strukturen, die sich wiederholen, weil wir selbst wollen, daß sie sich wiederholen, diesen austauschbaren Dingen.
Mit Frauen, die ihr Haar auf diese Art tragen, spreche ich immer mit der höchsten Aufrichtigkeit und dem tiefsten Ernst, weil Großmutter Emma der einzige Mensch war, dem es gelungen ist, mein Vertrauen zu gewinnen, als ich sechs oder sieben Jahre alt war.
Das ist doch gar nicht verwunderlich, sagst du, es gibt eben solche Prägungen. Natürlich.
Aber das sonderbare daran ist, weißt du, daß es stimmt. Sie funktionieren.
Es sind dann auch die richtigen Menschen, zu denen man geht. Auf diese Weise erschaffen wir eine Welt, wo eben noch keine war, produzieren wir Werte, funktionsfähige Formen, Grammatik und Logik aus Zufällen heraus, und nach einer Weile sind es keine Zufälle mehr, sondern die reine Wirklichkeit.
Ich erinnere mich, daß ich vor einigen Jahren in einem Café saß, es war übrigens hier in Berlin, und davon sprach, wie schwierig, wie fern das Glück sei, und wie ungeheuer klein der Teil unseres Lebens, von dem wir wirklich sagen können, daß er glücklich sei.
In diesem Augenblick ging ein vollkommen glücklicher Mensch vor den mit grünen Wollgardinen halb verhangenen Fenstern vorbei. Eine sehr dicke Frau zwischen Fünfzig und Sechzig, mit verrutschten, verwurstelten Strümpfen an ihren unförmigen Beinen. Und mit einem so glücklichen Lächeln, wie ich es kaum je gesehen habe.
– Verlangen wir nicht zuviel, wenn sie glücklich sein kann und wir es nicht sind, sagte ich zu meiner Gesprächspartnerin – es war übrigens Johanna Becker, diese lustige rothaarige Philosophiedozentin, du hast sie vielleicht schon mal getroffen.
– Du irrst dich, Lars, sagte sie. Man kann sein eigenes Glück oder Unglück nicht mit dem der anderen vergleichen. Jeder Mensch schafft sich sein eigenes Maß.
Ich habe viel über das nachgedacht, was Johanna sagte. Für einen so ausgeprägt demokratischen Menschen wie sie ist das eine bemerkenswerte Äußerung, und ich glaube, sie hat ganz recht.
Liebe Zwatt, du weißt genausogut wie ich, wie es in der Welt aussieht. Unsere Städte werden immer unwohnlicher, die Freiheiten, von denen das vorige Jahrhundert träumte, immer utopischer, immer ideengeschichtlicher; nicht einmal eine so einfache Sache wie die parlamentarische Demokratie hat noch die geringste Bedeutung für die Menschen, die von ihren Entscheidungen betroffen sind. Unerbittlich verschlingt ein immer blinderer, immer mechanistischerer Kapitalismus einen Lebensbereich nach dem anderen. Diese schreckliche Maschine rast davon wie ein Lastzug, dessen Fahrer eingeschlafen ist, wobei der Druck aufs Gaspedal sich ständig verstärkt.
Inmitten dieser Katastrophe leben wir im Grunde genommen ganz zufrieden, solange unsere fundamentalen Bedürfnisse nach Zärtlichkeit, nach Vertrauen, nach jemandem, der uns zuhört, befriedigt werden.
Wir würden viel schlechter in einer utopischen Gesellschaft leben, wenn es dort niemanden gäbe, der uns liebt.
Ist es also so, liebe Zwatt, daß der wahre Zustand, das Paradies oder die Hölle, letztlich etwas ist, worüber wir selbst bestimmen?
Und welch ein Zynismus ist es
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