Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
Ostsee erinnern, an Esten und Finnen, eine Stadt in der Stadt, die genauso aussieht wie die Städtchen meiner Heimatprovinz und ebenso ausgeliefert ist wie sie, eine Stadt, in der alles von oben gekommen ist, Verordnungen, Steuern, Einberufungen zu Armeen, die in slawischen Sümpfen erfroren sind, sogar die bürgerliche Revolution ist von oben gekommen.
Ich war etwas erschöpft, nachdem ich den ganzen Tag in einem verräucherten, schlecht gelüfteten Raum im Medborgarhuset gesessen hatte, es hatte ziemlich schwierige Debatten über den Etat der Feldbiologen gegeben, und außerdem hatte ich ständig über etwas anderes nachgegrübelt, worüber ich hier nicht reden möchte.
Wie ich hinauskomme, habe ich keinen anderen Gedanken mehr im Kopf als den, daß ich die Folkungagatan hinuntergehen will. Ich gehe mechanisch, meine Schaffellmütze weit über die Ohren gezogen. Block für Block, ohne eigentlich an irgendwas Bestimmtes zu denken.
Als ich bei den Lagerhäusern am Stadsgården ankomme, wird mir plötzlich klar, daß ich doch an etwas gedacht habe: an meine Kindheit in Stockholm .
Es ist Winter, irgendwann um 1880 herum, sehr kalt, viel Schnee. Wir wohnen in den niedrigen Holzhäusern unten am Karlbergskanal, der ganz zugefroren ist, und nachmittags nach der Schule fahren wir Kinder auf dem gefrorenen Kanal Schlittschuh, mit diesen altmodischen Schlittschuhen, deren Spitzen wie Schürhaken nach oben geschwungen sind. All das ist sehr anschaulich. Meine kleine Schwester hat Schwierigkeiten, die Schlittschuhe an ihren derben Knöpfstiefeln zu befestigen, und ich helfe ihr mit den Riemen. Wir gleiten durch das matte, schräge Licht zwischen Nachmittag und Abend. Große, nach Teer riechende Lastkähne sind im Eis festgefroren, wir gehen an Deck und schauen uns um, obwohl das verboten ist. Wir finden einige Bierflaschen, die die Ablader auf dem Deck zurückgelassen haben, von dieser flaschengrünen, richtig altmodischen Art mit den hohen Hälsen.
Und in den Büschen am Kanal entdecke ich eines Nachmittags die festgefrorene Leiche einer Frau, nur ein Arm ragt aus dem Eis, es ist eine junge Frau, die sich irgendwann im letzten Herbst im Kanal ertränkt hat, und jetzt ist der Körper im Eis festgefroren. Es ist gar nicht erschreckend, sondern fast natürlich, daß eine junge Frau dort im Eis festgefroren ist, nur sehr traurig, und sie tut mir sehr leid.
Als ich aber nach Hause komme und von meiner Entdeckung berichte, herrscht große Aufregung, Leute rennen hinaus, Eissäger kommen mit ihren langen Sägen aus der Stadt, wir Kinder dürfen nicht zuschauen...
Als ich an diesem Punkt angelangt bin, blicke ich auf, und es durchfährt mich: MEIN GOTT, ICH HABE DOCH GAR KEINE KINDHEIT IN STOCKHOLM GEHABT . Und schon gar nicht in der Zeit um 1880!
Ein leichtgläubiger Mensch würde jetzt sofort von Seelenwanderung reden und von Erinnerungen an eine frühere Existenz. Aber solch komplizierte Erklärungen sind natürlich gar nicht nötig.
Wenn das Unterbewußtsein für eine Weile sich selbst überlassen ist, fängt es einfach an, sich etwas auszuspinnen. Es schafft sich eine Identität, paßt sich der Umgebung an, produziert bereitwillig neue Formen, um die plötzliche Leere auszufüllen, die entsteht, wenn wir den Alltag vergessen.
Offenbar fürchtet das Unterbewußtsein nichts so sehr wie das Gefühl, überhaupt niemand zu sein .
Dieser diensteifrige Schuft war schon dabei, eine Biographie für mich zusammenzustellen!
(Das blaue Buch II:4)
Menschen, die uns künftig etwas bedeuten werden, treffen wir nicht nur einmal, sondem bei mindestens zwanzig Gelegenheiten, bis wir den Fingerzeig allmählich ernst nehmen.
Mir ist es jedenfalls stets so gegangen.
Und wir weichen ihnen aus, solange wir nur können.
Margareth muß ich zum erstenmal irgendwann in der Realschule in Västerås gesehen haben. Ich ging in den fünfjährigen Zweig der Realschule und sie in den vierjährigen. Im vierjährigen waren vor allem Schüler vom Lande; weil es so lästig und schwierig für sie war, das ganze Schuljahr über mit Bussen und Zügen hin- und herzufahren, versuchten ihre Eltern natürlich, ihnen die Schulzeit möglichst zu verkürzen.
Daher waren alle Schüler, die aus Surahammar und Hallstahammar, aus Kolbäck, Rytterne und Strömsholm in die Oberschule nach Västerås kamen, vielleicht ein bißchen frühreifer und selbständiger als wir anderen, die in der Stadt wohnten, und sie hielten sich auch ein wenig abseits,
Weitere Kostenlose Bücher