Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
ungeheuren Börsenkrisen, die innerhalb von zwei Tagen zuerst zur Abschaffung des Geldverkehrs und dann zur Abschaffung des gesamten Finanzwesens, jeder finanziellen Verpflichtung, führen sollten, erschütterte bereits seit zehn Stunden die Börsen der Welt.
Der Sturz des Goldpreises war zunächst enorm. Gegen Mittag war er auf den Tonnenpreis der Kohle im Jahre 1934 gesunken.
Die chaotische Flucht zum US $, die zugleich einsetzte, hatte gegen ein Uhr den Dollarkurs auf zwölftausenddreihundertvierzig Unzen Gold hochgetrieben. In der nächsten halben Stunde begann infolge eines unbestätigten Gerüchts ein panisches Rennen auf die norwegische Krone, wobei diese innerhalb von fünfundzwanzig Minuten den zehntausendfachen Wert des Vortags erreichte.
Der Chef der norwegischen Reichsbank gab um zwei Uhr in einer Sondersendung der Tagesschau in düsteren Worten die Nachricht vom nationalen Bankrott bekannt.
Die Fernsehsendung fand nur äußerst wenige Zuschauer. Die Bürger von Norwegen waren zu diesem Zeitpunkt nämlich mit privaten Entdeckungen einer solchen Größenordnung beschäftigt, daß ein nationaler Bankrott sie völlig kalt ließ.
Seit Jahrtausenden waren die Gebete mancher Menschen sehr genau, sehr präzise gewesen, die anderer dagegen so vage und verschwommen, daß sie sich fast nur in ihren Träumen artikulierten.
Im nördlichen Västmanland, zwischen Ängelsberg und Ombenning, saß ein pensionierter alter Sägewerksarbeiter in seinem Häuschen und blätterte zerstreut in der Vestmanlands Läns Tidningen vom Vortag. Er war auf der Schwelle zum Halbschlaf. Seine Augen blinzelten schon ins Licht, die Fliegen summten durchs Zimmer.
Ein diskretes Klopfen an der Tür ließ ihn zusammenzucken. Als er daraufhin die Augen öffnete, ein gedämpftes »Herein!« rief und dann sechs tadellos befrackte Kellner riesige Körbe mit frisch gekochten Krebsen in Dill, Kümmelkäse groß wie Traktorenräder und kistenweise eisgekühlten Branntwein hereinschleppen sah, nahm er das seelenruhig hin und folgerte, er sei tatsächlich eingeschlafen.
Die erste Zimbel und der Ton der kleinen Flöte ließen ihn wieder zusammenzucken. Die Kellner waren verschwunden.
Angetan mit einem blauschimmernden, durchsichtigen Gewand, eröffnete die erste der fünf Tänzerinnen den Reigen. Ihr wunderbar beweglicher Nabel kreiste unter einem schweren Schmuck, der zwischen ihren festen kleinen Brüsten hing. Sie lächelte ein unendlich einladendes Lächeln.
Mit festen Schritten ging der Sägewerksarbeiter zur Tür und schloß sie ab. Auf dem Rückweg merkte er, daß der Rheumatismus in seinem linken Knie spurlos verschwunden war.
Zu diesem Zeitpunkt machten Milliarden von Menschen auf der ganzen Welt die gleiche Entdeckung. Der Gott, der ihre Gebete so überraschend zu erhören begonnen hatte, schien keinerlei moralische Hemmungen, keine Spur von Anstand zu besitzen. Die Macht, die imstande war, auf einen Schlag die mit Kernwaffen beladenen Riesengeschosse in Türme aus solidem Gold zu verwandeln, zeigte sich bald ebenso gewillt, die verrunzelte Gattin eines ältlichen Oberstleutnants in einen schönen blonden Jüngling zu verwandeln oder das Tagesheim der Sozialfürsorge in der Appelbergsgatan in Stockholm mit einem Orkan von Strauß-Walzern und knallenden Sektkorken zu überfluten.
Die ganze Welt wimmelte von einer offenbar unermeßlichen Heerschar flinker Diener, die plötzlich Gestalt annahmen, um jeden Menschen mit allem zu versehen, was er sich insgeheim wünschte. Das Gedränge, das Tanzen, das öffentliche Kopulieren auf den Straßen Europas war an jenem zweiten Tag unbeschreiblich. Sporadische, vage Rundfunkberichte aus den benachbarten Kontinenten ließen erkennen, daß dort ähnliche Verhältnisse ausgebrochen waren.
Faszinierend war es, den Zusammenbruch der Kirche oder vielmehr der Kirchen zu verfolgen. In der Mitte des dritten Tages, ungefähr zur gleichen Zeit, als Seine Majestät der König mitteilte, sämtliche Parteien hätten es abgelehnt, sich die Last der Regierung aufzubürden, als Moskau und Washington meldeten, alle offiziellen Handlungen seien eingestellt worden, und die Kommunistische Partei Chinas den planmäßigen Anbruch der utopischen Phase verkündete, traf der seit mehreren Tagen erwartete Hirtenbrief der Bischofskonferenz ein.
Es war ein Meisterstück vorsichtiger Formulierungskunst. Er begann mit der Feststellung, Gottes Wege und die Tiefe der Natur seien unerforschlich, und niemand könne dem
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