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Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Titel: Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lars Gustafsson
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Begriffen als mütterliche Besorgnis bezeichnet werden könnte, durch den ungeheuren Körper jagte.
    Gott hatte die Gebete der Menschen wahrgenommen.
     
    Es dauerte drei Tage, bis die Menschheit merkte, was im Gange war.
    Der erste, der die Veränderung bemerkte, war ein fünfzehnjähriger Guerillasoldat in einem Dschungelgebiet gleich südlich von Tansania. Er und seine ausgemergelte, halb verdurstete Truppe, mit langen, eitrigen Narben an den Beinen, waren gerade von einem Hubschrauber ausfindig gemacht worden, als sie sich im Schatten einer einsamen Baumgruppe inmitten einer Steppe zu verbergen suchten, die ein unbarmherziges Mittagslicht überflutete.
    Der Junge lag zitternd neben einer Munitionskiste und sah den Hubschrauber näher kommen. Das Mündungsfeuer der Maschinengewehre war schon deutlich sichtbar. In einem Augenblick würde er sterben. Er war in einer Missionsstation erzogen worden. Als er nun den Hubschrauber ankommen sah und hörte, wie das dumpfe Geräusch der Flügelblätter von dem härteren Knattern der Schnellfeuerwaffen übertönt wurde, ließ er sich einen Gedanken entschlüpfen:
    Gott, vernichte sie!
     
    Der weiße Blitz, der den Hubschrauber und seine Besatzung in eine Menge von stark ionisierenden Teilchen verwandelte, die in einer Wolke mit dem Wind davontrieben, war bis zum Horizont zu sehen.
    Der zweite Hubschrauber, der sich schon im Anflug befand, stürzte wenige Kilometer weiter weg mit einem Krachen ab. Die durchgerüttelte Besatzung tappte, noch ganz geblendet von dem ungeheuren Lichtschein, hilflos umher.
    Gott, laß dies endlich ein Ende haben, betete ein Krebspatient in einem Krankenhaus. Die Wirkung des Morphiums flaute gerade ab, und die weißglühenden, pulsierenden Schmerzen im rechten unteren Teil seines Magens, gleich über der Leiste, kehrten, mit jedem Pulsschlag stärker werdend, allmählich zurück.
    In diesem Augenblick hörte der Schmerz auf und wurde von etwas abgelöst, das sich wie eine ohrenbetäubende Stille ausnahm. In der Magengegend spürte er nur ein leichtes Ziehen, als sei etwas Hartes entfernt worden, das ihn dort gedrückt hatte. Er konnte wieder normal atmen. Fünf Minuten später versuchte er unendlich vorsichtig, sein Bein anzuziehen.
    Nach weiteren fünf Minuten drückte er wie wild auf die Alarmklingel. Als die Nachtschwester sehr verspätet zur Tür hereinkam, stand er mit einem scheuen Lächeln mitten auf dem Fußboden.
     
    Schenke uns, o Gott, einen dauerhaften Frieden, beendete der Erzbischof von Åbo seine Morgenandacht im Radio. Er sagte es in tiefem Ernst und meinte wirklich jedes Wort, das er sprach.
    Hätte er dieses Gebet eine Zehntelsekunde früher gesprochen, dann wäre er ein gewöhnlicher Bischof geblieben, wenn auch ein Erzbischof.
    Da er es aber gerade in diesem besonderen Augenblick sprach, wurde er zu einer Gestalt von weltgeschichtlicher Bedeutung, ja tatsächlich zur größten weltgeschichtlichen Gestalt.
    Drei Zehntel Sekunden nachdem der Erzbischof von Åbo die letzte Silbe des Wortes »Frieden« ausgesprochen hatte, entdeckte das Kontrollpersonal in einem der riesigen unterirdischen Raketenbunker, die eine Kette in der Äußeren Mongolei bilden, daß all die kunstvollen Instrumente, die den Zustand einer Rakete mit multiplem Gefechtskopf überwachen – sie kann gleichzeitig sechs Wasserstoffbomben über sechs verschiedenen Städten niedergehen lassen –, auf Null zeigten. Das führte zu Verzweiflung, Alarm, Notmaßnahmen. Nach sechs Stunden harter Arbeit konnte ein Spezialistenteam nur noch feststellen, daß nichts mehr zu retten war. Die achtzig Meter lange Rakete in ihrem tiefen Silo bestand von der Spitze bis zum Sockel aus ungeheuer schwerem, wunderbar glänzendem 24-karätigem Gold. Weichem, biegsamem, solidem Gold.
    Es dauerte noch einen weiteren Tag, bis die Welt entdeckte, daß dasselbe für das gesamte spaltbare Material auf der Erde galt, und nicht nur für das spaltbare. Jede Waffe, jedes Projektil, bis hin zu den Schwertern der Eisenzeit in den Museen, hatte sich im selben Augenblick in Gold verwandelt.
    Am nächsten Tag um achtzehn Uhr wurden drei durch Psychopharmaka stark gedämpfte Mitglieder des nationalen Sicherheitsrats der Vereinigten Staaten in eine psychiatrische Privatklinik überführt. Die übrigen Mitglieder beobachteten ihre Abfahrt an einem Fenster in einem der oberen Stockwerke des Pentagon. Sie hatten den leeren Blick von Menschen, die nichts mehr sehen und hören wollen.
    Die erste der

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