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Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Titel: Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lars Gustafsson
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Sturzregen wie einen kleinen Derwisch herumtanzen sehen, oft halbnackt, da er von seiner Mutter Prügel kriegte, wenn er mit nassen Sachen nach Hause kam.
    Ich kann ihn noch vor mir sehen, wenn ich die Augen schließe, einen wilden kleinen Derwisch, im Hagelschauer ekstatisch auf den grob behauenen, vom Regen glänzenden Steinen aus dem achtzehnten Jahrhundert herumtanzend, dort draußen an der Schleuse von Färmansbo.
    Als sei der Gewitterregen sein Vater gewesen.
    Ein kleiner Mensch, in sein eigenes Geheimnis eingeschlossen.
    Ich denke oft darüber nach, was aus ihm geworden wäre. Ein Sägewerksarbeiter, wie sein Vater es war? Ein Entdeckungsreisender zu den Mornington Islands? Aber was gibt es noch zu entdecken?
    Er machte immer den Eindruck, für etwas ganz Besonderes bestimmt zu sein.
    Wir alle waren für etwas anderes bestimmt.
    Wenn ich mich unter den Menschen umsehe, die ich im Laufe meines Lebens kennengelernt habe: Lehrer, Freunde, Mädchen, Zufallsbekanntschaften, treue alte Gefährten, Verwandte, dann wird mir klar, daß ich keinen einzigen von ihnen, ich sage keinen einzigen, nicht einmal meine ehemalige Frau und auch nicht meine Geliebte, wirklich gekannt habe.
    Man trifft einen neuen Menschen, einen, den man interessant findet. Man versucht, ihn »unterzubringen«, wie es heißt. (Ich versuche das sogar bei diesen Herren und Damen, die im Fernsehen die Nachrichten verlesen.)
    In seinen Erinnerungen sucht man nach Gesichtern, die dem gleichen, das man vor sich sieht. Die langsamen Bewegungen der Augenlider stimmen mit denen überein, die man einmal bei einem Redner im Verein der Feldbiologen gesehen hat, die Mundwinkel sind die gleichen wie die eines Chemiedozenten im Uppsala der fünfziger Jahre. Kurz gesagt: Man holt sich hier einen Tonfall, dort einen Gesichtsausdruck.
    Man legt sich das Unbekannte mit Hilfe des Bekannten zurecht. Der Psychoanalytiker in seinem Analysezimmer (oder wie das heißt; ich bin noch nie in einem gewesen) macht im Prinzip das gleiche: Er trägt Erfahrungen und Erinnerungen zusammen, um den Schlüssel zu dem Neuen, Unbekannten zu finden, womit er konfrontiert wird.
    Aber das, was wir uns zurechtlegen, worauf wir zurückgreifen, dieser Schlüsselbund von einst gesehenen Gesichtern, mit dem wir klappern, besteht ja aus ebensoviel Unbekanntem. Wir erklären Rätsel mit Rätseln.
    Das ist doch verdammt noch mal genau dasselbe, als würde man sich ein zweites Exemplar der Länstidningen kaufen, um eine Meldung nachzuprüfen, der man keinen Glauben geschenkt hat, als man sie in seinem eigenen Exemplar der Zeitung fand.
    Jeder Mensch birgt zutiefst ein nachtschwarzes Rätsel in sich. Das Dunkel der Pupille ist nichts anderes als die sternenlose Nacht, die Dunkelheit tief im Auge ist nichts anderes als die Dunkelheit des Universums.
    Nur als Rätsel ist der Mensch groß und deutlich genug. Nur eine mystische Anthropologie wird ihm gerecht.
    Es war natürlich typisch für Nicke, daß er schwamm und tauchte wie ein Fisch. Er tauchte bis auf den Grund des tiefen Schleusenbeckens und machte Schleppangeln los, die sich dort unten im Schrott von drei Jahrhunderten verfangen hatten. Er klammerte sich an alten Baumwurzeln und Drahtseilen fest, seine Haare wogten ihm wie Seegras um den Kopf, der magere Körper legte sich horizontal in die Strömung; er sah aus wie jemand, der mit ungeheurer Geschwindigkeit fliegt, wie ein Engel, der sich nur im Schwebezustand in der normalen Wirklichkeit aufhalten kann.
    Die Wasserfläche über ihm war ein fernes, glitzerndes Dach. Das leise Knacken und Ächzen, das die gewaltigen Wassermassen der Schleuse stets in den wuchtigen, geteerten Eichenpfählen der Schleusentore verursachen, drang wie das Ticken einer fernen, riesigen Uhr zu ihm. Die Stimmen der Kameraden waren nicht mehr zu hören. Er war vollkommen furchtlos. Die langen Wasseralgen in der Tiefe, wo die Steine in den Boden übergingen, flatterten wie lange Frauenhaare.
    Die Gesichter der Kameraden, schmale kleine Ovale, die sich andächtig über den Rand des Beckens beugten, sah er nicht. Wieviel Zeit verging, wußte er nicht. Vielleicht würden sie weg sein, wenn er wieder an die Oberfläche kam, vielleicht würde es auch eine ganz neue Zeit sein.
    Er schwebte. Er bewegte sich mit großer Geschwindigkeit. Er dachte: Ich halte mich fest. Behutsam lockerte er den Griff seiner einen Hand, weil er ausprobieren wollte, ob der andere Arm stark genug war, um ihn festzuhalten, aber er spürte, daß die

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