Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
mir klar wurde, daß es ihre Art war, in ihren ausziehbaren Patentbetten schlafen zu gehen.
Lange bevor sie sich zusammengerollt haben und mit ein paar mürrischen Worten eingeschlafen sind, die sich durch die Zwischendecke nur wie das leise Schwirren einer Cellosaite anhören, habe ich mir schon ein anschauliches Bild gemacht von den entsetzlichen und blutigen Szenen, die sich dort oben abgespielt haben.
Es frappiert mich, ein übers andere Mal: was für ein grobes, kümmerliches Organ ist doch die Phantasie! Mit welch einer Leichtigkeit bewegt sie sich: verglichen mit dem schwerfälligen, mühsamen Wissen.
Beim geringsten Zeichen bin ich bereit, die Welt um mich her mit Bedeutungen, mit Signalen, Humaniora zu füllen.
Und wenn das Rauschen der Wasserleitungsrohre in der Küche sich einen Augenblick lang abschwächt und das Radio verstummt ist, dann meine ich, das Klagen und das Lachen aus all diesen Kreisen zu hören (ringförmig ineinandergelagert in einem perfekt funktionierenden Mikrokosmos), die mein Inferno sind. Das Rauschen der Wasserleitungen verschmilzt mit dem Brausen jener entsetzlichen, freiwilligen und unfreiwilligen Erinnerungen, und ich lausche stumm dem endlosen Brausen meiner eigenen Phantasie. Und zugleich ist das alles kaum näher oder greifbarer als das Geräusch einer weit entfernten Galaxis im Radioteleskop.
Genau zu diesem Zeitpunkt stehen mit Atomwaffen ausgerüstete Raketen startbereit in Betonbunkern an ganzen Kontinenten entlang. Perfekt geschulte Experten verfolgen auf ihren Instrumenten Stunde für Stunde den Zustand in ihrem Inneren und überwachen ihre Starttauglichkeit. Ein unkluger, beschränkter, gefrorener Verstand bestimmt darüber, in welchem Augenblick dieser Tod losgelassen werden soll, um Stadtviertel zu Glas zu zerschmelzen und die feinen, geheimnisvollen Kerne menschlicher Zellen bis in unzählige Generationen hinein zu vergiften. In der Mandschurei, dem mongolischen Grenzgebiet nach China zu, trainieren gerade jetzt starke Truppenkonzentrationen auf beiden Seiten der Grenze für den Krieg, von dem man annimmt, daß er endgültig die Machtverhältnisse zwischen der Sowjetunion und China entscheiden wird.
Unsichtbare, auf Zeitzündung eingestellte Uhrwerke ticken um mich herum. Es ist genug Tod da, um mein dünnes, kurzes Leben Hunderte von Malen auszulöschen.
Diese Entwicklung geht weiter, weil irgend jemand sie braucht. Das neue Jahrbuch des Instituts für Friedensforschung in Stockholm berichtet darüber, wie die Massenaufrüstung im letzten Teil der sechziger Jahre um durchschnittlich vier Prozent zugenommen hat. (Jahre, die viele von uns für Jahre der sich verringernden Kriegsgefahr hielten.)
Bekannte Fakten. Jeder halbwegs gebildete Diplomingenieur kennt sie.
Vor diesen Fakten versagt meine Phantasie. Sie wälzt sich in Beilhieben, Angstschreien und wilden Dramen, wenn die Nachbarn über dem Zwischenboden fluchend an ihren ausgeleierten Ausziehbetten zerren, aber angesichts der Möglichkeiten des Todes, angesichts seiner realen Möglichkeiten, bleibt sie so stumm und passiv wie eine kleine Marmorkugel, die über einen Marmorboden rollt.
Mit diesem bizarren geistigen Rüstzeug lebe ich, und mit ihm werde ich sterben. Auch die Phantasie ist ein Gefängnis.
In der Literatur sind alle Mahlzeiten entweder großartiger oder ärmlicher als in Wirklichkeit, jeder Beischlaf bekommt ungeheure Dimensionen, alle Reisen führen in die seltsamsten Abenteuer hinein.
Auch der innere Mikrokosmos, die inneren Höllenkreise strahlen in einem Licht, das fast immer ein wenig zu grell wirkt, ein wenig zu bengalisch, immer mischt sich eine eigentümliche Lust in die Seelenqualen.
Sind Phantasie und Wissen unvereinbar? Sind Gefühl und Vernunft immer unabhängig voneinander?
Nach fünfzehn Jahren ideengeschichtlichen und philosophischen Studiums stelle ich mir Fragen, die so naiv, so plump und unqualifiziert sind, daß der jüngste Gymnasiast sie als Scheinprobleme entlarven würde, als verworrenen Quatsch, als Literatur für Illustriertenleser, Psychologie für Leute, die Zeitstudien betreiben, und für Angestellte in der Schulbehörde.
(Und wieder rauscht es in den Rohren. Putz löst sich von der Decke und landet vor mir auf dem Tisch, macht das Brot ungenießbar. Strindberg: Inferno. Warnungen.
Auch Strindbergs Inferno enthält eine Wahrheit.)
Ich weiß das.
Und doch habe ich immer stärker bei der Dichtung Zuflucht gesucht (als wäre sie eine Mutter), je klarer
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