Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
ich mir wurde über das Bedrohliche, das Zufällige an meiner eigenen Situation und an der anderer. Ich glaube zu wissen, wie Angst und Lust verschmelzen können. Ich weiß, glaube ich, wie Angst und Phantasie einander dabei helfen können, Lust zu schaffen. Mir fehlt durchaus nicht ein gewisser Hang zum Illusionismus.
Aber ich glaube an das Reden. Für mich ist das Reden Mütterlichkeit, Wärme, Wiege.
Im Oktober 1968 taucht in Berlin, in einem literaturwissenschaftlichen Seminar, wo ich gerade irgendeinen Aufsatz lese, ein Herr auf, der behauptet, eine meiner Novellen verfilmen zu wollen, jene, die von Bakunins Reise handelt.
Er ist angenehm, nahezu gewinnend, aber er hat etwas Verworrenes an sich, er stolpert von einer Idee zur anderen. Er ist sehr hartnäckig, er möchte meine Novelle verfilmen; er hat einen guten Namen und hat verschiedene Preise für seine ausgezeichneten Fernsehfilme bekommen.
Ich verspreche ihm, mir die Sache zu überlegen und ihm irgendwann ein Exposé für ein Drehbuch zu schicken. Einige Zeit später liefere ich tatsächlich ein Exposé, das zeigt, wie sich die Novelle ohne größere Schwierigkeiten zu einem Film ausweiten lassen könnte. Ich bekomme ein paar freundliche Zeilen zur Antwort.
Im Dezember 1968, in den Vorweihnachtstagen, bin ich von meiner Reise durch den Mittleren Osten nach Västerås zurückgekommen. Ich bin todmüde, zerrissen von Zweifel und Unruhe über den schrecklichen Zustand zwischen Frieden und Krieg, dessen Zeuge ich geworden war, und fast Tag und Nacht damit beschäftigt zu versuchen, das Gesehene zu verstehen.
Zu dieser Sorge um den Frieden, um menschliche Werte, um Menschen, deren Schicksal mich etwas angeht, kommt noch etwas anderes hinzu: eine sephardische Dame, die in dieser Erzählung nicht vorkommt, hat an mein Innerstes gerührt, hat einer Zärtlichkeit und Verzweiflung die Pforten geöffnet, die ich nicht für möglich gehalten hätte; eine Sensibilität, die ich seit meinem siebten oder achten Lebensjahr für verloren, verleugnet oder unterdrückt gehalten habe, strömt mit ungeahnter Kraft hervor, es ist ein Gefühl, als würde ich mich häuten, ich bin außerstande, mich gegen was auch immer zu wehren, ich bin im Begriff, ein anderer zu werden.
Ich bin nicht mehr imstande, der Welt gegenüber Gleichgültigkeit zu empfinden, einzelne Gesichter aus einem fremden Erdteil passieren noch im Schlaf Revue.
In diesen Vorweihnachtstagen 1968 taucht der Regisseur auf, er hat einen Geldgeber mitgebracht, wir finden einen Tisch in einem Restaurant in der Nähe der Adolf-Fredrik-Kirche (die Weihnachtsessen haben begonnen), wir unterhalten uns vielleicht eine Stunde lang. Diese Leute haben sich die Mühe gemacht, von Berlin hierherzukommen, um mit mir ein Filmprojekt zu erörtern: ich will sie nicht enttäuschen.
Ich erkläre, daß es nur eine Möglichkeit gebe, meine Novelle zu verfilmen, und die sei, das zu verfilmen, was tatsächlich dasteht. Der Produzent fliegt mit der nächsten Maschine nach Hause, offenbar glücklich und zufrieden, der Regisseur begleitet mich heim nach Västerås und verbringt drei Tage mit mir, unentwegt über den Film diskutierend.
Ich höre mit zerstreuter Aufmerksamkeit zu, es schneit in dichten Flocken, meine Kinder haben mich einen Monat lang kaum gesehen und bekommen mich jetzt auch nicht zu sehen, ich komme nicht dazu, Weihnachtsgeschenke zu kaufen, mit einer an Wahnwitz grenzenden Geduld findet Madeleine sich mit der Situation ab.
Der Regisseur okkupiert mein Arbeitszimmer, breitet große Skizzen über den ganzen Boden aus: er hat mit seinem Film angefangen.
Meine Novelle sei wirklich hervorragend, aber sie müsse erweitert werden, sagt er. Er kennt ein paar Viertel in London, die sich hervorragend für ein paar Straßenszenen eignen. In der Novelle kommt ein Frauenmörder vor, der René Bick heißt, Dieser René Bick ist hervorragend, aber wir müssen mehr aus ihm machen: wir müssen ihn zeigen, wie er auf sein Opfer wartet, seine Glacéhandschuhe, sein Lächeln.
Und Anarchisten: wir dürfen über den Anarchismus nicht nur reden, wir müssen ihn zeigen.
Er will den Film in Farbe drehen: er hat eine Szene im Kopf mit einem Bombenattentat auf einer Schlittschuhbahn, rotes Blut fließt über das Eis.
Wie in Trance gehe ich mit diesem seltsamen Magnetiseur in den verschneiten Straßen von Västerås spazieren, ich antworte mechanisch mit Ja und Nein. Mein Unterbewußtsein ist an ganz anderen Orten und
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