Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
seine Assistenten suchen neue Kamerawinkel.
Wieder eine wilde Autofahrt zu ein paar Straßen in der Gegend von Green Park; sie könnten aus dem zweiten Band des »Kapitals« stammen, ein Industrieslum, der sich seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts erhalten hat. Erneute Diskussionen im Hotel.
Ich frage sehr vorsichtig, was denn eigentlich meine Rolle in diesem ganzen Zusammenhang sei und wie um Gottes willen man in zehn Tagen zu drehen beginnen wolle.
Man sagt mir, daß nur noch ein paar kleine ergänzende Szenen fehlten und daß ich sie am nächsten Tag schreiben solle.
Ich befinde mich jetzt in einem völlig erschöpften, willenlosen Zustand, ich setze mich hin und schreibe auf englisch eine Szene, die überhaupt noch nicht in der Diskussion aufgetaucht ist: Bakunin besucht den geisteskranken Cafiero im Gefängnis. Cafiero öffnet und schließt während des ganzen Gesprächs das Fenster und schlägt es hart gegen den Rahmen: er versucht, den Sonnenstreifen zu fangen, der durch das schmutzige Glas hereinfällt. Ich überlege mir allen Ernstes, ob ich sie als mein eigenes kleines Geheimnis für mich behalten soll, zeige sie aber am nächsten Vormittag her: allgemeine Begeisterung, erneut eine große Diskussion, der ganze Film muß mit Rücksicht auf diese Szene umgebaut werden, wir sind jetzt alle todmüde und haben uns in einen Haufen wahnwitziger Fanatiker verwandelt, die unentwegt aneinander vorbeireden, meine Rettung ist die Uhr, die anzeigt, daß es Zeit ist, zum Flughafen hinauszufahren. Wir scheiden in allgemeiner Begeisterung und mit dem Versprechen, uns in ein paar Wochen in Paris wiederzutreffen. Neben meiner Novelle existieren nun eine Menge von bizarren und chaotischen, grillenhaften Einfällen, die im Augenblick des Abflugs zu einem Nichts zusammenschrumpfen.
Mir ist, als sei ich in der Hölle gewesen und von Dämonen verfolgt worden oder als habe eine seltsame Verschwörung mich für einen Zweck ausgenützt, den ich selbst nicht verstehen kann.
Es folgen ein paar Wochen, in denen es mir glückt, die ganze Angelegenheit zu vergessen, dann kommt wieder ein Brief mit der enthusiastischen Bitte um weitere Szenen für Innenaufnahmen, die mit Cafiero ist glänzend, reicht aber für einen Film nicht aus, die Angelegenheit eilt jetzt, da in vierzehn Tagen das Filmteam ankommt.
Dieser Brief hat gerade einen neuen, fürchterlichen Migräneanfall bei mir ausgelöst, als ein Brief des Produzenten eintrifft, der mich höflich, aber bestimmt von meinem Auftrag als Manuskriptautor entbindet. Ich antworte in einem wütenden Brief, daß ich nicht das geringste begriffe und daß ich gegen jeden Idioten prozessieren würde, der weiterhin versuchen sollte, meine Novelle über Bakunins Reise zu verfilmen.
Auch dies ist noch nicht das Ende dieser wahnwitzigen Geschichte: ungefähr eine Woche später kommt wieder ein Brief vom Produzenten, der höflich und mit versöhnlichen Worten einen Scheck über einen ganz ordentlichen Geldbetrag übersendet, als Entgelt für meine Mühe.
Ich begreife die ganze Angelegenheit immer weniger.
Wenn ich diese Geschichte in Gesellschaft erzähle, komme ich meist nur unter Schwierigkeiten zum Ende, da ich mich vorher gewöhnlich vor Lachen winde: wenn ich sie in meiner Einsamkeit überdenke, erscheint sie mir heute noch erschreckend. Ich erschrecke über meine eigene Nachgiebigkeit, über die unerbittliche Logik, mit der ich in einen völlig fremden und belanglosen Zusammenhang hineingezogen werde, und am allermeisten über die sonderbare Kontaktlosigkeit, über die Phantasiewelt, in der sich alles abspielt.
Beim geringsten Zeichen bin ich bereit, die Welt um mich her mit Bedeutungen, mit Signalen, mit Humaniora zu füllen.
Wer kommt für das Unwirkliche auf: ich oder die Welt?
Meinem eigenen Leben gegenüber kann mich zuweilen eine solche Verwirrung, ein solches Mißtrauen überkommen, daß ich mir keinen anderen Ausweg weiß, als ein anderes Leben auszuleihen und es anstelle meines eigenen zu erzählen.
Nur dann, wenn mein Interesse von mir selbst auf jemand anders übergeht, habe ich das Gefühl, daß sich wieder Freiheit einstellt, daß der Blick sich weitet, daß der Atem ruhiger geht.
Weit von mir selbst entfernt, bin ich imstande zu reden. Ein paar Straßen weiter: und das Reden ist Mütterlichkeit und Schutz. Es ist meine Wärme, meine einzige Form. Meine Wiege.
III
Ein anderes Leben
Vite, y-a-t’il d’autres vies?
Rimbaud
Ein
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