Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
verarbeitet mit dumpfen, langsamen Bewegungen meine Erlebnisse von ganz anderen Orten und Zusammenhängen.
(Nicht die Attentate sind es, die mich am Anarchismus interessieren, und gerade jetzt interessiert mich der Anarchismus überhaupt nicht.)
Zugleich bin ich fasziniert von der unbestreitbaren Bildphantasie dieses Mannes, aber ebensosehr von seiner eigentümlichen Fixiertheit ans neunzehnte Jahrhundert, ans Verbrechertum, an die Bilder vom Kristallpalast, kombiniert mit dem Frauenmörder in schwarzem Zylinder und weißen Handschuhen.
(Meine ursprüngliche Novelle ist jetzt am Horizont verschwunden.)
Am Nachmittag vor dem Weihnachtsabend gelingt es mir, den Mann loszuwerden, er winkt mir unten am Bahnhof noch herzlich zum Abschied, und der Zug verschwindet im Schnee. Ich vergesse ihn und die ganze Angelegenheit im Augenblick seiner Abreise und fahre mit dem Auto auf vereisten Straßen nach Hallstahammar, um dort einen Weihnachtsbaum zu schlagen.
In den Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr beginne ich endlich mit meinem Essay über die Reise in den Mittleren Osten, ich versuche, jede Leidenschaftlichkeit zu vermeiden, ich versuche, in einer menschlichen Tonart zu schreiben, ich widerstehe jeder übereilten und vereinfachenden Parteinahme, ich verwerfe die Versuche, mit ein paar einfachen, angelernten marxistischen Wendungen den Krieg auf einen Konflikt mit selbstverständlichen Standpunkten zu reduzieren. Der Essay endet mit etwas, was einem erschöpften Schluchzer gleicht.
Irgendwann im Laufe des Januars beginne ich nachts wieder ruhiger zu schlafen.
An einem Morgen gegen Ende des Monats ruft mich der Filmregisseur wieder an, als ich gerade in der Redaktion von Bonniers Litterära Magasin sitze und meine Morgenpost durchsehe. Er befindet sich jetzt in London, das Filmteam wird in zehn Tagen ankommen, er ist dabei, Drehorte für die Innenaufnahmen seines Films zu suchen.
– Für welchen Film?
– Aber wir haben doch das Manuskript an Weihnachten fertiggestellt!
– Herrgott, und ich habe geglaubt, wir hätten ein paar Vorschläge diskutiert und verglichen!
– Natürlich: da sind noch ein paar kleine Details, die wir jetzt ausarbeiten müssen. Sie müssen nach London kommen.
Ich weise darauf hin, daß ich kein Millionär bin. Er verspricht, die Fahrkarte per Eilboten zu schicken: ich bin schon zu tief in diese Angelegenheit verstrickt, um mich ihr überhaupt noch entziehen zu können, ich erörtere die Angelegenheit beim Mittagessen mit den Mädchen im Verlag und mit Karl Otto Bonnier, der ein vernünftiger Mensch ist, wir kommen überein, daß ich am besten hinfahre und herausfinde, worum es eigentlich geht. Noch am gleichen Nachmittag befinde ich mich in einem abgelegenen Haus in Kensington. Da ist der Regisseur, umgeben von zwei, drei jungen Assistenten, er kocht förmlich über vor Ideen, man hat in der Nähe ein Hotelzimmer für mich gemietet, seine Ideen sind erschreckender und bizarrer als je zuvor.
Ganz offensichtlich ist er dabei, einen Film zu entwickeln, einen bizarren, einen erschreckenden, einen furchtbaren Film. Was er mit meiner Novelle zu tun haben soll, kann ich nicht einmal mehr ahnen.
Wir diskutieren die halbe Nacht hindurch über Außenschauplätze, seine Phantasie reißt mich mit, ich erinnere mich an das Palmenhaus in Kew Gardens, eine Schöpfung des neunzehnten Jahrhunderts in Gußeisen und Glas, ich werde am nächsten Morgen um acht Uhr aus dem Bett geholt und in einem Volvo Duett dort hingefahren, der offenbar fürchterlich überzüchtet ist und jeder nur denkbaren Verkehrsregel trotzt, einer der jungen Assistenten fährt ihn (ich weiß nicht, ob er Engländer ist oder Deutscher), und wir kommen zu dem winterlichen Park und hinein in das Palmenhaus, wo uns feuchte tropische Luft entgegenschlägt. Ich kenne mich sofort wieder aus, als ich die gußeisernen Galerien sehe, die hohen Baumstämme, die Orchideen.
Eine völlig vergessene Erinnerung taucht wieder auf. Hier war es, wo mich vor zehn Jahren erstmals Unruhe und Angst vor Harriet Spencer aus Oxford überkamen, weil sie mich gewarnt hatte, ausdrücklich gewarnt vor einer gewissen sehr großen gelben Orchidee, vor der ich einen Augenblick stehenblieb.
Die ganze Landkarte dreht sich , wie es manchmal geschieht, wenn man zu einem Ort zurückkommt, dessen Umgebung man nicht besonders gut kennt, dreht sich um dreißig Grad und bleibt in neuen Himmelsrichtungen liegen.
Ich werde noch stiller und zerstreuter, der Regisseur und
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