Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
anderes Leben
Auf den historischen Übersichtskarten sind die mächtigen Bewegungen der Armeen und Armeekorps als dicke und dünnere schwarze und rote Pfeile zu sehen. Sie schwenken in mächtigen Bögen nach Norden und Süden, sie teilen sich an bestimmten Stellen.
Die verzweifelte Massenflucht mit Karren, Wagen und Pferden, die im Frühjahr 1945 unter dem näher rückenden Kanonendonner in Sachsen begann, erlebte Johanna nur bruchstückweise.
Sie war acht Jahre alt und wohnte nach dem Tod der Eltern bei einer Tante in einem abgelegenen Dorf. Noch im vorhergehenden Herbst war sie zur Schule gegangen und hatte gelernt, sich blitzschnell auf dem eisigen Schulweg in den Graben zu werfen, wenn die amerikanischen Jäger im Tiefflug über den Weg fegten und auf alles, was sich rührte, ihre Maschinengewehrsalven abfeuerten. Ein früher Frost war in den Pfützen auf dem Weg: es klirrte.
Da die Tante alt und nicht mehr besonders tatkräftig war, lebten Johanna und ihr Bruder in einem mehr oder weniger verwilderten Zustand. Als der Schulunterricht irgendwann gegen Ende des Herbstes endgültig aufgehört hatte, übernachtete sie nicht selten im Wald.
Sie war zu dieser Zeit fast erschreckend häßlich. Ihr rotes Haar war sehr kurz geschnitten (wegen der Läuse), die unregelmäßigen, großen Zähne wurden von einer grotesken Drahtklammer zusammengehalten. Der schwere Kopf ließ die viel zu großen, sehr abstehenden roten Ohren noch besonders auffällig erscheinen.
Sie sprach einen bäurischen und derben sächsischen Dialekt, den sie sich im letzten Jahr in der Schule zugelegt hatte. An dem Tag, als die Bevölkerung dieses Ortes ihre Karren und Wagen zur Flucht bereitmachte, bekamen ihr Bruder und sie die Masern, und die Bauern weigerten sich, sie in einem der Wagen mitzunehmen. Pausenlos fiel ein kalter Regen, der Kanonendonner von der Front war immer deutlicher zu hören. Die Geschwister standen mit der apathischen Tante am Fenster und sahen den langen Zug der Flüchtlinge im Regen davonziehen.
Ein paar Stunden später kam eine Dame im Auto vorbei, die ohne Kommentar die beiden Geschwister und die Tante in ihren Wagen aufnahm, der nun bis zum Dach mit Kindern und Koffern vollgepackt war. Die Dame behauptete, ihre eigenen Kinder hätten schon die Masern gehabt.
Jetzt sah Johanna zum ersten Mal Tote. Sie lagen in unregelmäßigen Haufen, manchmal nur zwei oder drei, manchmal mehr, mit klaffenden Mündern am Wegrand.
Auf ihrer Reise kamen sie unendlich langsam voran. Als die Nacht hereinbrach, hatte Johanna hohes Fieber. Verworrene Bilder bewegten sich hinter den Augenlidern.
Johanna hatte Glück: zu dieser Zeit wurden die Krankenhäuser evakuiert, das heißt, das noch übriggebliebene Personal verließ sie und verließ die Patienten, Sterbende und Invalide, die nun nur noch die Wege entlangkriechen konnten. Die Dame im Auto brachte sie in ein Krankenhaus, das nicht aufgegeben wurde. Noch im tiefsten Fieber jammerte sie: sie wußte, daß der kleine Bruder nicht mehr mit ihr war.
Die überanstrengten Krankenwärter stellten eine doppelseitige Lungenentzündung fest. Sie rechneten damit, in nur wenigen Tagen wieder ein Bett frei zu bekommen, und sie brauchten es.
Und während die deutsche Schreckensherrschaft also schließlich zusammenbrach und sich in Chaos, Massenflucht und Tod auflöste, versank Johanna Becker, damals ein achtjähriges Kind, in immer tiefere Bewußtlosigkeit. Der Atem wurde langsamer, der Puls nahm immer mehr ab. Am 24. April 1945 um zehn Uhr vormittags stellte ein Arzt, der aus irgendwelchen Gründen in der letzten Woche an diesen Ort gekommen war, den klinischen Tod des Mädchens fest.
Der Arzt, ein sonderbarer und schweigsamer Mann mit einem völlig kahlen Kopf und einer furchtbaren Narbe hinter dem rechten Ohr, die von einem Splitter stammte, der an einem Vormittag bei Marschall Schukows Kurskoffensive in sein Gehirn eingedrungen war und sich dort allmählich eingekapselt hatte, beschloß, es mit einer Herzmassage zu versuchen.
Der Leiter dieses Krankenhauses hieß Herr Uhlich. Herr Uhlich war ein älterer, düsterer Herr, der zumindest bis vor kurzem über einen dieser vielfach gefalteten Specknacken verfügt hatte, wie man sie noch heute in Zugabteilen und in Warteschlangen in der Bundesrepublik Deutschland vor sich sehen kann.
An einem schönen Morgen mitten im Mai geht dieser Herr Uhlich mit drei ziemlich hohen Offizieren der Roten Armee im Krankenhauspark spazieren. Herr Uhlich ist
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