Ritter 01 - Die Rache des Ritters
sie war in der Kammer gefangen. Sie hatte schon nachgeschaut, wie tief es vom Fenster bis auf die Erde hinab war, und dann die Möglichkeit einer gelungenen Flucht ausgeschlossen. Eigentlich konnte sie nur auf ein Wunder hoffen und sich wünschen, dass Gott Mitleid mit ihr hatte und ihr einen Befreier schickte.
Und dann kam die Antwort – ein leises Klopfen an der Tür, so verhalten, dass Raina es bei ihrem lauten Schluchzen beinahe überhört hätte. Es klopfte wieder, lauter dieses Mal, und es folgte der Klang einer Stimme, die sie wiedererkannte.
»Mylady, geht es Euch gut?«
Alarics besorgtes Flüstern drang durch das Halbdunkel; der Türriegel wurde langsam zurückgeschoben.
Raina holte tief Luft, setzte sich auf und strich sich das zerzauste Haar aus dem Gesicht. Als das Metall leise zur anderen Seite der Tür glitt, machte ihr Herz einen kleinen Sprung. Er wollte hereinkommen! Während ihre Gedanken sich überschlugen, um einen Plan zur Flucht zu ersinnen, erwachten plötzlich ihre Lebensgeister wieder. Sie griff nach dem leeren Nachttopf, huschte zur Wand hinter der Tür und drückte sich eng daran. Raina hasste es zutiefst, dem Jungen wehtun zu müssen, aber hier ging es nicht allein um ihr Leben, und sie hoffte, er würde das verstehen.
Die alten Lederscharniere knarrten, als Alaric die Tür öffnete. »Lady Raina?«, flüsterte er, während er den Kopf zur Tür hereinsteckte. Er machte noch einen Schritt in den Raum herein. »Bitte antwortet mir, Mylady. Geht es Euch gut?«
Vermutlich hörte er ihr gewispertes Flehen um Vergebung, denn er wandte den Kopf dorthin, wo sie stand – den Nachttopf hoch über den Kopf haltend. Alaric hatte nicht die Chance, auch nur einen Laut von sich zu geben, als sie ihre Waffe auch schon auf ihn niedersausen ließ und der Nachttopf den Knappen mit einem dumpfen Knall traf. Alaric stürzte zu Boden, wo er regungslos liegen blieb.
Raina handelte rasch. Sie warf den verbeulten Topf auf den Boden und zog Alaric weiter ins Zimmer hinein, damit man ihn nicht entdeckte, bevor sie die Möglichkeit zur Flucht genutzt hatte. Sie zerrte den bewusstlosen Squire auf ihr Lager und bettete seinen Kopf auf ihr Kissen, um auf diese bescheidene Weise für seine Bequemlichkeit zu sorgen. Er sah aus, als schlummere er selig, doch einen Moment lang befürchtete Raina, ihn umgebracht zu haben. Zögernd legte sie die Hand an seine Wange und dankte allen Heiligen, denn sie fühlte sich warm an. Der Junge stöhnte plötzlich, und Raina wäre vor Schreck fast aus ihrer Haut gefahren.
Sie schlüpfte aus der Tür, schloss die Kammertür hinter sich und schob leise den Riegel vor. Das Herz schlug wie wild in ihrer Brust, als sie den leeren Gang hinunterlief und die Wendeltreppe hinabstieg, sich eng an die Mauer drückte auf ihrem Weg zur großen Halle. Dort verharrte sie und lauschte auf die Geräusche aus den Schlafquartieren von Rutledges Männern. Bis auf ein lautes Schnarchen war Gott sei Dank alles ruhig.
Sie spähte um die Ecke, und eine Bewegung in der gegenüberliegenden Ecke veranlasste ihr Herz, einen Sprung zu machen, aber es war nur Odette, die sich von ihrem Liebhaber wegstahl, während dieser weiterschlief. Raina schürzte die Röcke, damit sie ungehindert laufen konnte, und eilte weiter, vorbei an der Halle und den Gang hinunter, der auf den Burghof und in die Freiheit führte. Sie überquerte den kleinen Hof, wich den Pfützen aus, die der kürzlich niedergegangene Regenschauer hinterlassen hatte, und huschte im schwachen Licht des Mondes weiter. Sie erreichte das Innere der Festungsmauer, glitt daran entlang, bis sie auf die Treppe stieß, die hinauf zum Wehrgang führte.
Drei mit Armbrüsten bewaffnete Wachen standen am hinteren Ende der Brustwehr und unterhielten sich miteinander. Es war unmöglich, ungesehen an ihnen vorbei zum Tor zu gelangen; Rainas einzige Hoffnung war, von der Mauer zu springen und zu beten, dass sie unversehrt auf der anderen Seite landete. Sie biss die Zähne zusammen, während sie die steinernen Stufen zum Wehrgang erklomm. Sie bewegte sich so leise und so langsam, wie sie konnte, um von den Männern nicht gesehen zu werden.
Auf dem Wehrgang angekommen schaute sie über die Brüstung in die Tiefe. Ihr Herz hämmerte wie verrückt. Du lieber Himmel, es war so schrecklich hoch! Obwohl die Dunkelheit den Boden fast verschlang, konnte Raina doch die verstreut liegenden großen Felsbrocken und den steilen Hang des Burghügels erkennen. Der
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