Ritter 01 - Die Rache des Ritters
beängstigende Gedanke, sich beim Aufprall die Knochen zu brechen, wurde nur noch von der Befürchtung übertroffen, den Hügel hinunterzurollen. Ihr Vorhaben war waghalsig, um es vorsichtig auszudrücken. Raina schaute nervös über die Schulter zu den Wachen hinüber.
Der Sprung war ihre einzige Hoffnung.
Lautlos kletterte sie auf die Brüstung des Wehrganges und blieb auf der Mauerkrone auf dem Bauch liegen. Sie klammerte sich an den rauen Mauersteinen fest, als sie sich vorsichtig und mit den Beinen voran über den Mauerrand schob. Die kalte Nachtluft fuhr ihr unter die Röcke, entblößte ihre nackten Beine und ließ Zweifel über die Klugheit ihres überhastet ausgeführten Plans in ihrer Brust aufkommen. Im ungünstigsten Fall würde sie unten aufschlagen und zerschmettert werden. Vor ihrem inneren Auge tauchte ein Bild auf: Leblos und mit gebrochenen Gliedern lag sie auf den Felsen. Was für eine tragische, heldenhafte Art, mein Leben zu lassen, dachte sie mit einem plötzlichen Hang zur Melodramatik. Ihr Vater wäre natürlich verzweifelt, aber sehr stolz, wenn er von ihrem Mut hörte. Aber was wäre mit Rutledge?, fragte sie sich. Er würde wütend sein, dass er sein Unterpfand verloren hatte, aber würden seine Gefühle darüber hinausgehen?
Sie hatte nur wenig Zeit, über diese Frage nachzudenken, denn die Steinmauer, auf der sie lag, hatte begonnen, abzubröckeln. Ein kleiner Stein brach ihr unter den Händen weg, prallte von der leicht schräg verlaufenden Mauer ab und landete auf der Erde. Von den Zinnen her hörte Raina Schritte, Stimmen wurden laut, und dann beugte sich einer der Wachleute über die Brüstung. »Die Gefangene!«, rief er, als er sie entdeckte. »Dieses verfluchte Frauenzimmer – sie will fliehen!«
Die anderen Männer fluchten und ein Alarmpfiff ertönte schrill, gefolgt von weiteren Schritten, die rasch näher kamen.
Jetzt gab es kein Zurück mehr. Raina schloss die Augen, sandte ein kurzes Stoßgebet in den Himmel und ließ sich von der Mauer fallen.
Der Wind blähte ihre Röcke, während sie fiel und schließlich mit einem knochenerschütternden Aufprall auf dem Boden auftraf. Sie biss sich auf die Zunge, als ihre Zähne aufeinanderschlugen, und fiel benommen von dem Sturz auf den Rücken. Heilige Muttergottes, sie hatte es getan … und sie war nicht tot! Sie schüttelte ihre Benommenheit ab und kam taumelnd auf die Beine, als die Stimme eines der Wachsoldaten über ihr ertönte.
»Halt!«, brüllte er, aber Raina beachtete ihn gar nicht. Sie packte ihre Röcke und stolperte den Hügel mehr hinunter, als dass sie lief, während der Wächter ihr eine Warnung nachrief: »Halt oder ich lege dich um, Weib!«
Sie lief schneller, mit klopfendem Herzen, erwartete jede Sekunde, den Pfeil zu spüren, der sie durchbohren würde. Ihre Angst wurde fast umgehend bestätigt, als etwas mit großer Geschwindigkeit an ihr vorbeizischte, sich mit einem dumpfen Geräusch vor ihr in die Erde bohrte. Raina reagierte mit einem lauten Aufschrei auf das Geschoss, das sie so knapp verfehlt hatte, und hörte deshalb nicht die wütende Stimme, die den Wachen befahl, sofort mit dem Schießen aufzuhören.
Stärker von ihrer Angst als von ihrer Kraft getrieben näherte Raina sich dem Fuß des Burghügels, ihre Lungen und ihre Beine schmerzten vor Anstrengung. Ihre bloßen Füße brannten, sicherlich bluteten sie und waren zerschnitten von den scharfen Steinen, die den Boden bedeckten. Sie fühlte sich dem Zusammenbruch nahe, aber sie zwang sich weiter. Sie musste es bis in den Wald schaffen, musste eine Stelle finden, wo sie sich verstecken konnte, wenn sie die Chance nutzen wollte, zu entkommen.
Gunnar war auf sein Schlachtross gesprungen und galoppierte aus der Burg. Dieses dumme Frauenzimmer hatte keine Ahnung, wie knapp sie dem Tod entgangen war. Selbst wenn er für einen Moment den unglaublichen Leichtsinn vergaß, von der Festungsmauer zu springen, welcher Wahnsinn hatte sie gepackt, zu glauben, vor seinen Wachen fliehen zu können? Wäre er nicht von ihrer Flucht unterrichtet worden und auf den Burghof gekommen, wäre sie jetzt vermutlich tot. Sein Herz krampfte sich zusammen, als er noch einmal vor sich sah, wie sein Bogenschütze die Waffe auf Raina gerichtet hatte. Gott sei Dank war er rechtzeitig zur Stelle gewesen, um den Schuss abzulenken. Der Mann traf immer sein Ziel und hätte es auch dieses Mal nicht verfehlt, wäre Gunnar dem Bogenschützen nicht in den Arm gefallen, um ihn von
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