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Ritualmord

Titel: Ritualmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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Gitters, ganz in der Nähe, hat ein Auto angehalten. Vielleicht kommen die anderen zurück, denn stundenlang war niemand hier. Sie haben ihn allein gelassen hinter dem verschlossenen Gitter; nur Will Smith starrt ihn ungerührt über seinen Raketenwerfer hinweg an, und Brad Pitt runzelt die Stirn, während die Sonne auf seinem Brustpanzer blinkt.
    Zum ersten Mal seit einem ganzen Menschenleben, so kommt es ihm vor, hat der Schmerz so weit nachgelassen, dass er sich konzentrieren und über seine Lage nachdenken kann. Er weiß nicht, wie lange es her ist, dass der Onkel ihm die Hände abgeschnitten hat. Seit einer Weile schwappt die Zeit hin und her; er hat Fieber gehabt, daran erinnert er sich, und irgendwo in diesem Fieber hat er aus den Augen verloren, wer er und wo sein Platz in der Welt ist. Er schließt die Augen und sucht in Gedanken den Weg zurück, kann sich aber nur der ersten paar Stunden entsinnen, als er nach der Droge wieder zu sich kam.
    Es war, als würde er gegen eine weiße Wand geschmettert oder ins All hinausgeschleudert, wo er davonkreiselte, ohne zu wissen, wo oben und unten war. Es war ein unerträglicher Schmerz, schlimmer als der Turkey, schlimmer als die Geschwüre, die er zu Weihnachten am Bein gehabt hatte. Er lag auf dem Sofa und heulte, die Arme zwischen die Beine geklemmt, die Innennaht der Jeans fest an die Wunden gepresst, 
    als könnte das die Qualen lindern. Er hatte nicht gewagt, sich anzusehen, was sie mit ihm gemacht hatten.
    Skinny saß bei ihm und versuchte, ihn ruhig zu halten; regelmäßig setzte er ihm einen Schuss, und geschickt stießen seine harten kleinen Finger die Nadel durch die Haut; immer nahm er sich die Zeit, eine Stelle zu finden, die noch nicht kaputt war. Erst am zweiten Tag, als er nicht mehr schreien konnte, brachte Mossy den Mut auf hinzuschauen. Er wartete, bis Skinny ihm wieder einen Schuss gesetzt hatte, dann schluckte er angestrengt, weil er Angst davor hatte zu kotzen - und tat es. Er blickte dahin, wo seine Hände gewesen waren, hielt die Arme hoch. Einen Moment lang war sein Kopf tot und ließ sich nicht bewegen, und Mossy konnte nur starr hinsehen. Sein erster Gedanke - als er wieder denken konnte - war lächerlich und surreal: Seine Arme waren so kurz. Jemand hatte die Stümpfe verbunden, mit Verbandszeug wie aus einem Erste-Hilfe-Kasten. Die Verbände waren dick und verkrustet von Blut und Flüssigkeiten und mit Unmengen von Elastoplast verklebt, dessen Ränder sich hoch rollten, sodass man die schwärzliche Gummierung sah. Er zitterte so sehr, dass seine Zähne klapperten; und er legte die Stümpfe auf seine Oberschenkel und starrte sie lange, lange an und dachte immer nur, wie beschissen kurz seine Arme waren. Immer wieder kam er darauf zurück: Seine Arme wirkten so winzig. Wieso war ihm das nie aufgefallen? Und wieso hatte er nie bemerkt, wie groß oder klein seine Hände waren?
    Und dann traf es ihn wie ein Hammer: Er hatte sie an jedem Tag seines Lebens vor Augen, aber er wusste nicht, wie seine Hände ausgesehen hatten. Er würde sie nie wiedersehen. Seine eigenen gottverdammten Hände, und er würde sie nie wieder ansehen. Er ließ den Kopf auf das Sofa zurückfallen.
    »Ihr Dreckschweine!«, kreischte er. »Gebt mir meine Hände zurück!« Die Tränen rollten ihm über die Wangen. Skinny kam auf dem Boden herangekrochen, kniete neben ihm und strich 
    ihm über die Stirn. Aber mitten in Mossy war ein riesiges Loch voller Trauer, das sich nicht wegstreichen ließ. »Meine Hände. Meine Hände. Meine. Das sind meine Hände, verdammt.«
    Und darauf kommt er immer wieder zurück. Das sind meine Hände, verdammt. In den letzten paar Tagen, als der Schmerz nachgelassen hat, während Skinny die Verbände wechselte, so gut er konnte, hat Mossy nur seine Wut in Gang gehalten: Jemand hat gewagt, ihm etwas wegzunehmen, das ihm gehört, und wenn er ihn nur sehen könnte, dann könnte er etwas dagegen tun, es vielleicht sogar ungeschehen machen. Er bewacht seine Hände jetzt so eifersüchtig wie nichts, das er je besessen hat - für keinen Freund, keinen Stoff, für nichts hätte er je so etwas empfinden können. Sie sind etwas, das ihm niemand ersetzen kann, etwas, das seine Eltern ihm gegeben haben. Und bei diesem Gedanken muss er noch mehr weinen: dass seine Eltern ihm etwas Kostbares gegeben haben. Seit Jahren interessiert er sich einen Scheißdreck für seine Eltern, aber jetzt kann er nicht aufhören, daran zu denken, wie traurig sie sein werden,

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