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Ritualmord

Titel: Ritualmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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glaube nicht. Warum?«
    »Ich weiß nicht.« Mit einer rudernden Handbewegung hielt sie sich aufrecht und verhinderte, dass das Wasser ihren Rücken an der Wand drehte. Die Luft in ihrem Anzug drängte nach oben und sammelte sich an ihrem Hals; der Druck machte sie benommen. »Ich glaube, ich habe einen Geist gesehen.«
    »Was ist los?«
    »Nichts. Nichts.« Ihr dröhnte der Kopf. Die Markierungsboje war dazu gedacht, das Gewicht eines Menschen zu tragen, und sie könnte sich innerhalb einer Sekunde hinaufziehen, wenn irgendetwas sie angreifen sollte. Aber ihre Ausbildung hinderte sie daran aufzutauchen. Also wartete sie schwer atmend; ihr Blick wanderte suchend durch die Dunkelheit, während sie das Messer abwehrbereit im Bogen hin und her schwenkte. Der Hafen von Bristol, beruhigte sie sich. Nur der Hafen von Bristol. Und eigentlich hatte sie überhaupt nichts gesehen. Langsam verstrichen die Minuten. Die Nadel an ihrer SPG-Anzeige bewegte sich in winzigen Schritten, und als nichts passierte und Puls und Atmung sich allmählich wieder normalisierten, schob sie das Messer sehr langsam zurück in die Scheide an ihrer Wade. Die vergangene Nacht und Dads Arbeitszimmer – das war es, was ihr zusetzte. Es war nicht komisch. Ganz und gar nicht. Sie nahm sich zusammen und 
    ließ sich vornübersinken, damit die Luft in ihre Beine zurückkehrte. So verstrichen ein paar Augenblicke. Feiner Sand wirbelte um sie herum.
    »Dundas?«, fragte sie. »Sind Sie da?«
    »Alles okay, Sarge?«
    »Nein. Nein, nicht okay.« Ich habe Halluzinationen, Rich. Paranoia. Die volle Dröhnung. »Sie habe mich jetzt vierzig Minuten unten gelassen«, sagte sie schließlich. »Ich glaube, es wird Zeit, dass Sie mich rausholen. Meinen Sie nicht?«
    5
    13. Mai
    Dads Arbeitszimmer war seit dem Unfall verschlossen. Flea hatte immer gewusst, wo sich der Schlüssel befand – er hing an einem Nagel in der Speisekammer. Sie hatte nur nie den Mut gefunden, ihn zu benutzen. Zwei Jahre waren seit dem Unfall vergangen, und sie brachte es immer noch nicht über sich, den Raum zu betreten, in den ihr Dad sich zum Nachdenken zurückgezogen hatte. In den ersten Tagen nach dem Unfall war ihr Bruder Thom hineingegangen, um zu reflektieren, was passiert war, aber jetzt hielt er sich nicht einmal mehr in der Nähe des Zimmers auf und wollte ihr auch nicht helfen, alles zu sortieren. Jeder wusste, wie sehr Thom der Verlust ihrer Eltern getroffen hatte, mehr noch als Flea; und wenn man bedachte, was er bei diesem Unfall erlebt hatte, war es nicht überraschend, dass er nicht einmal die Worte »Mum« und »Dad« aussprechen wollte.
    Am Ende hatte sie es allein tun müssen. Es war ein sonniger Dienstagmorgen, zwei Tage bevor die Hand im Hafen gefunden 
    wurde. In der Küche lief der Fernseher, und sie suchte in den Regalen in der Speisekammer nach einer alten Mehldose, einer blauweißen Blechbüchse mit einem Sieb im Deckel, die Mum immer für Biskuitgebäck benutzt hatte. Sie streckte sich nach vorn, als sie aus irgendeinem Grund zur Seite schaute und ihr der blinkende Schlüssel ins Auge fiel. Einen Moment lang verharrte sie reglos, den Blick zur Seite gewandt, und starrte ihn an. Es war, als wollte er ihr etwas mitteilen.
    Das Haus, in dem ihre Eltern dreißig Jahre lang gewohnt hatten, war morsch und verwinkelt. Es bestand aus vier miteinander verbundenen Steinbrucharbeiterhütten aus dem achtzehnten Jahrhundert und zog sich über fast zwanzig Meter am Rand einer abgelegenen Landstraße entlang. Ein mit Steinplatten ausgelegter Korridor bildete das Rückgrat. Das Arbeitszimmer lag am Ende dieses Korridors, und als sie es erreichte, hatte sie weiche Knie. An der Tür blieb sie stehen; sie fühlte sich wie Alice im Wunderland mit dem Schlüssel in der Hand. Sie legte die andere Hand an die Tür, berührte mit der Nase das Holz und atmete seinen rauchigen Moschusduft ein. Dad hatte die Kinder nie zum Eintreten ermuntert, aber sie wusste, wie das Zimmer auf der anderen Seite aussah: Mauerwerk zwischen offenen Balken, und die Bücher ihres Vaters bedeckten drei Wände vom Boden bis zur Decke. Es gab einen altmodischen Bibliotheksschemel, den er mit dem Fuß umherschob – sie sah ihn vor sich, wie die Brille, die er mit Epoxidkleber geflickt hatte, an seiner Nase herunterrutschte, wenn er über den Rand hinweg auf die Buchrücken spähte.
    All das hatte sie an diesem Morgen im Kopf, und sie war vorbereitet auf das, was passierte, als sie den Schlüssel ins Schloss

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