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Ritualmord

Titel: Ritualmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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steckte und umdrehte. Sie war darauf vorbereitet, als etwas sie am Genick packte und in ihre Kindheit zurückversetzte. Es war die Luft, warm und schweißig, vermischt mit dem Geruch nach Terpentin und Harz, Pfeifentabak und Heidekraut, der aus den Büchern kam; so hatte Dad immer gerochen, 
    wenn er an einem Herbsttag aus dem Garten zurückkehrte. Es war, als atmete sie den letzten Atemzug ihres Vaters ein. Dann entdeckte sie den Bibliotheksschemel am untersten Regalbord und den verschlissenen Ohrensessel, der ein Stück weit vom Schreibtisch zurückgeschoben war, als wäre ihr Vater erst vor ein paar Augenblicken aufgestanden. Sie lehnte sich an den Türrahmen und biss die Zähne zusammen, bis sie knirschten, um die Tränen zurückzuhalten.
    Schließlich stieß sie sich von der Tür ab und ging zum Schreibtisch. Sie hielt kurz inne, als könnte Dad jetzt sagen: »Nicht wenn ich arbeite, Flea. Geh und hilf deiner Mutter.« Die Sonne drang durch die Ritzen in den Fensterläden und fiel auf die Rückenlehne. Als sie die Hand dorthin legte, fühlte sich das Leder ein wenig fettig und warm an – wie die Haut ihrer Hände. Das alte Damebrett, dessen billige Spielsteine aus Balsa so angemalt waren, dass sie wie Marmor aussahen, stand mitten auf dem Schreibtisch. Dad hatte hier bis tief in die Nacht hinein gegen sich selbst gespielt.
    Sie war nicht von Natur aus methodisch – von daher kam auch ihr Spitzname: Sie sprang wie ein Floh von einer Sache zur anderen aber ihr berufliches Training war nicht umsonst gewesen, und als sie jetzt anfing, Dads Arbeitszimmer zu durchsuchen, tat sie es systematisch. Schweigend saß sie im Schneidersitz auf dem Boden, während im Gang die Großvateruhr tickte und draußen auf den Feldern die Pferde des Nachbarn wieherten. In jeder Ecke des Zimmers standen Kisten, die vollgestopft waren mit Zeitschriften, Notizen und Dias, Fotos der Fakultät mit Dad in einer Cordjacke. Vier mit Klebstreifen verschlossene Bücherkartons mit dem Namen seines besten Freundes, Kaiser Nduka. Als sie ihre Suche beendet hatte, gab es fast nichts, was sie bei ihrem Dad nicht erwartet hätte.
    Fast nichts.
    Denn unter all dem Plunder und Staub befanden sich zwei Dinge, die sie nicht erwartet, für die sie keine Erklärung hatte. 

    Das Erste war ein kleiner Safe. Er stand unter dem Schreibtisch, dicht an der Wand, einer von der altmodischen Sorte mit einem Yale-Kombinationsschloss aus Messing. Nicht zu öffnen. Sie versuchte es mit jeder Zahlenfolge, die ihr einfiel – mit Mums Geburtstag, Dads Geburtstag, ihrem Geburtstag, Thoms Geburtstag, mit dem Hochzeitstag ihrer Eltern. Sie nahm sogar ein altes Mathematikbuch vom Regal und blätterte Integralreihen durch, die sie wahllos ausprobiert: die Wythoff’sche Konstruktion, die Para-Fibonacci-Sequenz. Aber der Safe ließ sich nicht öffnen, und schließlich schob sie ihn zur Seite und wandte sich dem zweiten Gegenstand zu, den sie gefunden hatte: einer Schmuckrolle ihrer Mutter aus violettem Samt, ganz hinten in einer Schreibtischschublade.
    Darin befand sich ein Ziplock-Gefrierbeutel, und kaum hatte sie ihn ausgewickelt, wusste sie, was er enthielt: Sie kannte sie von den Durchsuchungen, die sie im Lauf der Jahre im Zusammenhang mit Rauschgiftermittlungen durchgeführt hatte. Pilze – strähnig verschrumpelte Streifchen, zusammengedrängt wie winzige, trockene Gespenster. Es mussten ein paar Hundert sein, genug, um der Schmuckrolle ein spürbares Gewicht zu geben. Sie öffnete den Beutel und schüttete sie auf ihren Rock. Mit ihnen zusammen rieselten feine Fasern heraus und breiteten sich auf dem Stoff aus, und dabei stieg eine Erinnerung in ihr auf.
    Sie sah Dad vor sich, wie er auf dem Sofa lag, die Hände auf der Brust und ein Kissen auf dem Gesicht, um das Licht abzuhalten. So lag er oft stundenlang, ohne zu sprechen oder sich zu bewegen, als schliefe er. Aber er schlief nicht. Für einen Schlafenden war er nicht entspannt genug. Es war etwas anderes. Als sie jetzt in den Pilzen herumstocherte, fragte sie sich, ob sie es allmählich begriff. So, Dad, dachte sie, so also stand es die ganze Zeit mit dir? Und ich habe nie etwas vermutet.
    Sie saß lange da und starrte die Pilze an. Dann, als die Standuhr elf schlug, rastete in ihrem Hinterkopf etwas Großes ein. 

    Sie beförderte die Pilze wieder in den Ziplock-Beutel, packte den Beutel in die samtene Schmuckrolle und stand auf. Dann nahm sie den Safe, ging in die Küche, stellte alles ins Regal, und dann

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