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Ritualmord

Titel: Ritualmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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lag auf seiner Brust.
    Sie schwieg, also sagte er auch nichts und starrte ausdruckslos aus dem Fenster. Er spürte das Pochen seines Herzens, was 
    ihn an eine Unterhaltung denken ließ, die er drei Monate zuvor geführt hatte. Es war an dem Tag gewesen, als er London verlassen und einer seiner Kollegen ihn gefragt hatte: »Was, zum Teufel, wirst du denn machen da draußen, mitten im Nirgendwo bei den Wilden?« Ohne die Spur eines Lächelns hatte er geantwortet: »Keine Ahnung. Wahrscheinlich mich zu Tode vögeln.«
    Ein Witz natürlich, aber jetzt fielen ihm seine Worte wieder ein, denn wie sonst sollte er erklären, warum er sich hier Woche für Woche mit Mädchen wie Keelie traf. Die Wahrheit hatte er nicht sagen wollen: dass er London, die Stadt, in der er fast sein ganzes Leben verbracht hatte, verließ, weil er vor dreißig Jahren eines Tages aufgewacht war und festgestellt hatte, dass er das Einzige, was ihn mit diesem Ort verband, verloren hatte: seinen einzigen, gerade neunjährigen Bruder Ewan. Die Frage, was ihm zugestoßen war, hatte ihn sein ganzes Leben lang beschäftigt. Solange er denken konnte, beeinflusste sie alles, was er tat, und lange Zeit war er sicher, die Antwort liege in London, jenseits der Bahngleise, die am Ende des Gartens seiner Familie entlangführten, im Haus des alternden Pädophilen Penderecki. Caffery war jahrelang besessen von diesem Haus; er war davon überzeugt, dass Ewan dort gestorben war. Und dann plötzlich, über Nacht, war es vorbei gewesen. Hatte sich in Luft aufgelöst. Ja, er träumte noch immer von seinem Bruder und dachte an ihn, hatte immer noch den Drang, seinen Leichnam zu finden, aber mit London fühlte er sich nicht mehr verbunden. Er wollte nicht länger aus dem Fenster zu Pendereckis Haus hinüberstarren, und er konnte sich nicht mehr erinnern, warum er einmal geglaubt hatte, diese verdammte Bude würde ihm die Antwort geben.
    Aber seinen Job wollte er immer noch. Er war zur Metropolitan Police gegangen, weil er bei jedem Fall, den er löste, ein bisschen mehr das Gefühl hatte auszugleichen, was mit Ewan passiert war. Obwohl er kein Gipfelstürmer war – das 

    Begabtenförderungsprogramm bei der Met hatte ihm zu einem Blitzstart verholfen, aber mit siebenunddreißig hatte er nicht mehr den Ehrgeiz, die Chief-Inspector-Prüfung abzulegen –, half jede Festnahme ihm dabei, das Ding in seiner Brust festzunageln, das ihn nachts wach hielt. Seine Verbindung mit London mochte schwächer werden, aber die Bindung an die Firma blieb erhalten. Den Job konnte er überall ausüben, sogar in Bristol. So oder so, hier im Westen gab es vielleicht jemanden, der ihm helfen würde, das Rätsel um Ewan zu lösen.
    Keelie neben ihm hustete, legte die Finger an den Hals und rieb ihn ein bisschen, als wäre er wund. Dann wischte sie sich mit beiden Zeigefingern die Augenwinkel aus und säuberte sie von verklebtem Make-up. Sie zog ihren Rock herunter, beugte sich über die Lehne des Vordersitzes und klappte die Sonnenblende auf der Beifahrerseite herunter, um ihr Gesicht im Spiegel zu betrachten. Der Rock spannte sich straff über ihren Hintern, sodass Höschen und Strumpfhalter sich darunter abzeichneten.
    Unversehens schnürte Cafferys Kehle sich zusammen, und seine Augen fingen an zu brennen. Er richtete sich ein wenig auf, streckte die Hand aus, legte sie auf ihre Wade. Plötzlich wollte er mit ihr sprechen, sie fragen, ob sie Kinder habe, sie bitten, nur einmal etwas Menschliches zu ihm zu sagen. Aber Keelie fasste die Berührung falsch auf. Sie zog die Brauen hoch und lächelte. »Was soll das jetzt bedeuten?«, fragte sie und wollte noch etwas hinzufügen, als der Wagen heftig wippte. Es gab einen dumpf dröhnenden, metallischen Schlag, und aus dem Augenwinkel sah Caffery, wie etwas Dunkles an der Frontscheibe vorüberhuschte.
    »Scbeiße!« Keelie klammerte sich an die Rückenlehne und hielt sich fest, als der Wagen erbebte. »Was war das!«
    Caffery zog hastig den Reißverschluss seiner Hose hoch, drückte mit der Schulter die Tür auf und sprang hinaus in die verlassene Gasse. »Hey!«, schrie er in die Dunkelheit. Mit dem 

    Rücken zum Wagen blickte er sich um und spähte suchend in die Schatten. »Was zum Teufel war denn das?«
    Hey, kam das Echo zurück, Teufel, war denn das…
    Stille. Man hörte nur Verkehrsgeräusche und fernes Frauenlachen auf der City Road. Die Gasse war leer – nur eine Plastikeinkaufstüte, aus der Müll auf den Gehweg quoll, und der

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