Ritualmord
der das alles klarstellen könnte.
Sie steckte das Handy wieder in die Tasche, startete den Motor und fuhr in Richtung Süden auf die Straße. Die Häuser wurden zusehends spärlicher. Bald hatte sie die letzten Straßenlaternen hinter sich gelassen und befand sich auf der dunklen Landstraße, die sie in die einsamen Mendip Hills führen würde.
Kaiser Nduka.
Wenn Dad je zugegeben hätte, dass er einen guten Freund hatte, dann wäre es Kaiser Nduka gewesen. Sie hatten zusammen am Corpus Christi College in Oxford studiert, und auf
den ersten Blick hätte man sich zwei unterschiedlichere Menschen nicht vorstellen können: Dad mit seiner schwedischen Herkunft, mit papierdünner, verletzlicher Haut und zarten Kinderhänden, und Kaiser, der älteste Sohn eines Ibo-Häuptlings, ein gespenstisch hochgewachsener Mann mit Schienbeinen, so dünn wie Stöcke, und einem so großen Kopf, dass es aussah, als könnte er seinen Körper aus dem Gleichgewicht bringen. Kaiser war in den siebziger Jahren von seiner durch Öl reich gewordenen Familie zum Studium nach England geschickt worden, wo er mit einer hundeohrigen abeti-aja- Mütze und einem europäischen Anzug ankam. Irgendwie hatten die beiden Außenseiter – Kaiser und Dad – in ihrem Studium eine gemeinsame Basis gefunden, indem sie die Weltreligionen unter philosophischen und psychologischen Aspekten untersuchten. Kaiser war jetzt Professor für komparative Religionswissenschaft, und sein Spezialgebiet waren halluzinogene Erfahrungen im schamanischen Ritual. Seine Karriere verlief ohne Zwischenfälle, bis er sich an seinem Lehrstuhl an einer nigerianischen Universität an einem Forschungsprojekt beteiligte, das katastrophal schiefging, und von der Universität verwiesen wurde. Zur selben Zeit hatte ihn seine Verlobte verlassen.
»Sie haben es wahrscheinlich herausgefunden…«, hatte Mum geheimnisvoll gesagt. »Seine Freundin und die Universität haben wahrscheinlich herausgefunden, dass er nur zur Hälfte menschlich war…«
Kaiser hatte Mum immer nervös gemacht. Sie sagte nie, warum, aber sie fand immer einen Vorwand, zu Hause zu bleiben, wenn Dad in die Mendips fuhr. Auch Thom hatte Angst vor Kaiser – er meinte, er sehe aus wie der Teufel, und er habe Albträume gehabt, in denen Kaiser Leute durch die Straßen jagte. Flea fragte sich, wie er auf diesen Gedanken kam und was er in diesen fiebrigen Kinderträumen gesehen hatte: die schmutzigen, nur spärlich beleuchteten Straßen von Ibadan,
die Händler und den endlosen Verkehr, eine lautlose Gestalt, die durch die Gassen huschte – Kaiser. Sie fand es beinahe komisch: Kaiser mit einem Tuch um den großen Kopf, wie er in den Straßen auf Menschenjagd ging. Sie lachte darüber, aber Thom ließ sich nicht beirren. Er hatte Angst vor dem Haus, an dem ständig gearbeitet wurde. Es war mit Brettern vernagelt und mit Planen verhängt, und manchmal lagen ganz unerwartet Stellen bloß.
Als sie jetzt in den langen, dunklen Weg einbog, beleuchtet nur vom Mond, konnte Flea beinahe nachempfinden, was Thom meinte. Die Gegend hier in der Einsamkeit der Wälder auf den Kalksteinhügeln der Mendips erweckte tatsächlich einen gespenstischen Eindruck. Nasse Ranken hingen auf das Auto herunter und strichen mit langen Fingern darüber hinweg. Schließlich musste sie die Scheibenwischer einschalten, um sie beiseitezuschieben. Fast eine Meile weit ging es stetig bergauf; die Strahlen der Scheinwerfer irrlichterten über die Landschaft, bis sich vor ihr ein pockennarbige, silbrig schimmerndes Feld auftat. An seinem hinteren Ende versank die Landschaft im Nichts – die andere Seite des Tals war zwei Meilen weit entfernt –, und dort, am Rand des Abgrunds, als wollte es im nächsten Moment hinunterstürzen, stand Kaisers Haus: erbaut aus dem örtlichen blauen Juragestein, früher einmal hübsch, jetzt aber vernarbt von seinen ständigen Renovierungen und Umbauten. Ein einzelnes Licht brannte im Wohnzimmer, kaum sichtbar hinter einer vorgehängten Wolldecke. Er würde dort sein, an seinem gewohnten Platz – hingefläzt in seinem Lehnstuhl in der Ecke.
Sie parkte, schob den Beutel mit den Pilzen in die Tasche ihrer Fleecejacke und ging mit verschränkten Armen zur Hintertür. Es fröstelte sie, denn plötzlich schien es schon sehr spät zu sein. Sie trat in die Küche, schloss die Tür sorgfältig hinter sich und atmete dann die Wärme und die guten, würzigen Gerüche ein.
Kaisers Haus war voller Unordnung. Auf jeder
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