Ritualmord
»Hi« von Thom, eine Liste mit Schichtänderungen aus der Personalabteilung, eine Upgrade-Mitteilung des Telefonproviders und schließlich noch eine Nachricht von Tig. Sie stützte den Kopf auf die Hand und las sie noch einmal.
Gestern schon SMS. Muss reden. Nur so. Hier beschissen wie immer. Hast du Zeit? Bin heute Abend zu Hause. Treffen wo du willst. OK? Tig
Sie löschte die Nachricht, saß dann eine Weile da und dachte daran, wie verändert sie sich im Vergleich zu den Zeiten fühlte, in denen sie frei und fröhlich herumgevögelt hatte. Vor dem Unfall, als sie über eine eigene Wohnung verfügte und nur an den Wochenenden nach Hause kam, hatte ihr alles gefallen, was mit Sex zusammenhing: wie sich die Miene eines Mannes veränderte, wenn er sie in Unterwäsche sah, wie anders seine Stimme klang, wenn er ihren Namen aussprach. Aber seit dem Unfall kannte sie nur noch das einsame Masturbieren zu ein paar vagen Phantasien über irgendeinen Filmschauspieler. Sie redete sich ein, das sei so, weil sie niemals vor irgendwem die Schuhe ausziehen würde, aber es steckte mehr dahinter. Sie wusste, sie würde niemals wieder offen über Leben und Tod sprechen und nie eine Möglichkeit finden, über die anderen Dinge zu reden, die in ihr Leben getreten waren. Die einzigen Männer, die ihr jetzt noch nahestanden, waren entweder sehr viel älter, wie Kaiser oder Dundas, oder schwul, wie
Tig.
Sie schob den Schlüssel ins Zündschloss und wählte dann seine Nummer. Der Anrufbeantworter meldete sich; also startete sie den Motor und fuhr auf die Straße. Sie sollte keine enge Beziehung zu Tig unterhalten; es war eins dieser unprofes-
sionellen Dinge, die sie sich leistete. Aber heute Abend würde nur Tig verstehen, was mit ihr vorging.
Also Tig. Sie würde sich mit Tig treffen.
Das Foto war das einzige gerahmte Bild, das Caffery besaß, und vermutlich war es nach zwei Monaten in dem kleinen gemieteten Cottage an der Zeit, dass er einen symbolischen Versuch unternahm, es sein Zuhause zu nennen und das verdammte Ding aufzuhängen. Die Wände im alten Teil des Hauses waren porös und uneben; wahrscheinlich bestanden sie aus einem uralten Gemisch aus Kalk und Rosshaar oder Ähnlichem. Also entschied er sich für eine Wand im Anbau, wo die Mauern neu waren und einen kleinen Bilderrahmen mühelos halten konnten. Aber aus irgendeinem Grund wollte das Foto nicht an der Wand bleiben. Immer wieder zog es den Nagel heraus.
Nach dem Auffinden der zweiten Hand hatte er lange am Schreibtisch gesessen, allerlei erledigt und seine Fühler ausgestreckt. Die Faserproben von der ersten Hand waren nach Chepstow geschickt worden, wo Untersuchungen stattfinden sollten, die das interne Labor der Zentrale in Portishead nicht durchführen konnte; und IDENTl arbeitete immer noch an den Fingerabdrücken. Unterdessen waren vom Team die Mitarbeiter des Moat kontaktiert worden, die freigehabt hatten, und sie hatten den Eigentümer aufgespürt, der sich bereit erklärte, seinen Urlaub abzubrechen und übermorgen zurückzukommen. Darüber hinaus konnte er nicht viel tun, und so hatte er beschlossen, nach Hause zu fahren. In Hartcliffe hatte er an einer Werkzeughandlung gehalten und einen Satz Dübel und ein paar Schrauben gekauft.
»Und das«, presste er mit zusammengebissenen Zähnen hervor und drehte die Schraube ein letztes Mal, »wäre das.«
Er trat zurück und überzeugte sich davon, dass das Bild im Verhältnis zu Decke und Fußleiste gerade angebracht war. Es
sah lächerlich aus an dieser kahlen Wand – ein winziger rechteckiger Rahmen, der einsam und verloren dort hing. Es war ein Foto von seiner Abschlussparade am Hendon Police College in den achtziger Jahren. Er stand ganz hinten und seitlich. Er trat wieder heran und betrachtete die Gesichter. Ein paar dieser Jungs hatte er im Lauf der Jahre wiedergetroffen. Er hatte verfolgt, wie sie befördert wurden, heirateten und Väter wurden – einige von ihnen auch schon Großväter. Er hatte gesehen, wie sie Gewicht zulegten, ihre Haare verloren und durch die Essgewohnheiten bei der Polizei Diabetes bekamen. Und hier stand er, der Einzige, der unverändert geblieben war; er wog noch ungefähr genauso viel wie damals und hatte immer noch sein volles Haar. Er sollte sich glücklich schätzen. Die Leute sagten zu ihm: Du Glückspilz, noch immer keine Glatze. Dann nickte er und antwortete mit irgendeinem Scherz, aber im Grunde seines Herzens hasste er, was er im Spiegel sah. Er hasste sein
Weitere Kostenlose Bücher